Der wahre Tell ist trans

Zum Herbstbeginn ist Christoph Schneebergers Romandebut «Neon, Pink & Blue» erschienen. Ein Gespräch über Heimat, queere Theorie und Praxis, Literatur und über das Buch, dessen Erscheinen heute im Kapitel Bollwerk mit Galadinner und Dragshows gefeiert wird.

Wenn ich dein Buch einordnen müsste, würde ich sagen, es sei ein Heimatroman, oder genauer: Ein queerer Heimatroman. Was hältst du davon?

Das grundsätzliche Problem, das ich mit diesem Machwerk habe, ist, dass ich alles andere als einen weiteren bürgerlichen Scheissroman schreiben wollte und schlussendlich ist es ein weiterer bürgerlicher Scheissroman geworden. Aber es gab in letzter Zeit mehr als einen Roman, der als queerer Heimatroman bezeichnet wurde und ich kann mir gut vorstellen, dass die existenzielle Entfremdung, die man als queerer Mensch erleben kann, zu einem Verständnis führt, das allen nützen könnte. Wenn das der Fall ist, hat ein Heimatroman wiederum eine gute Funktion.

Wenn wir über Heimat reden, geht es ja immer auch um Entwurzelung.

Wenn es um Heimat geht, gibt es zwei Begriffe: Einerseits die Nostalgie und andererseits die Solastalgie. Da geht es darum, dass die Welt, die wir gekannt haben, verschwindet. Sie verschwindet mit den industriellen Entwicklungen und mit der Klimaveränderung. Jene Freunde, die wir auf unserem Spaziergang dabei hatten, werden vielleicht nicht mehr dieselben sein. Wir alle sind entwurzelt, ob nun Menschen entwurzelt zu uns kommen, oder ob wir hier entwurzelt sind. Die Gewissheiten der Umwelt sind einfach nicht mehr gegeben. 

Zürich ist ein wichtiger Schauplatz in deinem Buch, ebenso der Aargau. Bern, wo du inzwischen lebst, ist hingegen weniger ein Thema.

Bern kommt schon vor, aber als abwesender Raum. Durch die Geschichten von einem Verdingkind aus der Vergangenheit, die einem Kind erzählt werden, ist Bern sehr präsent, aber als jener Ort, den man eher meidet, als jener Dialekt, den man im Aargau extra verloren hat und nicht weiter pflegen wollte wegen schlechter Erinnerungen. Rückblickend erstaunte es mich nicht, dass wichtige Schritte zu «Neon, Pink & Blue» in Biel und Bern passiert sind, beides Orte, wo Geschichten von grosser Abwesenheit spielen.

Du warst durch deine Familie schon früh mit der Geschichte der Verdingkinder konfrontiert. In der Schweiz akzeptierte man diese aber erst vor wenigen Jahren als Teil der Landeshistorie.

In der Schweiz passieren Fortschritte in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oft durch Kinofilme, sei es «Das Boot ist voll», «Kinder der Landstrasse» oder eben «Der Verdingbub». Der Unterschied im Schweizer Bewusstsein vor und nach diesem Film war massiv. Davor musste ich mich jahrelang erklären und wurde angezweifelt mit dieser Thematik, man fand, das klinge nach Amerika, aber sicher nicht nach Schweiz. Erst nach dem Film hat sich das geändert.

Dazu gibt es in deinem Buch eine schöne Formulierung: «Bitteres Nichtwissen». Dieses Thema taucht immer wieder bei dir auf, sei es bei der Geschichte mit den Verdingkindern, bei Hexenverbrennungen, Verwahrungen, bei den Frauenrechten oder auch Aids. Das ist ja etwas sehr Schweizerisches: Ungerechtigkeiten, Missstände lange zu verschweigen.

Ich habe jetzt fünfzehn Jahre an diesem Buch gearbeitet und mich dabei immer gefragt: Warum brauche ich so lange? Jetzt ist mir klar, dass erst einige Fragen geklärt werden mussten. Inzwischen sind wir an einem Punkt, wo solche Geschichten erzählt, gelesen und interpretiert werden können. Es liegt nun auf dem Tisch, dass die Schweiz nicht jene Postkarte ist, die wir uns und allen anderen immer verkauft haben. Die Aufklärung ist jetzt die grosse Aufgabe, aber auch nicht mehr die einzige. Es geht auch darum, was das an den Bedingungen der Erzählungen ändert, wenn Legenden einerseits nicht mehr so einfach reproduziert und andererseits nicht mehr so easy reflektiert werden können, weil es nicht mehr einfach die andere politische Gruppe gibt, die man alleine für etwas verantwortlich machen könnte. Wir leben alle in einem Land, das vom Kolonialismus profitiert hat und weiterhin profitiert. Die westliche Freiheit ist auf Kosten von Sklaven in fernen Ländern gegangen und die westliche Freiheit hat es aber offenbar auch ertragen, innerhalb Europas weiterhin Menschen zu versklaven. Wir stehen alle in der Verantwortung und wir alle haben im Moment ein fundamentales Problem mit unserem Selbstbild.

Die Republik hat geschrieben, dein Buch sei «angewandte Queer-Theory».

Ich hoffe sehr, dass es queere Praxis ist und nicht Theorie. Natürlich ist die Theorie wichtig. Entscheidend für mich waren schliesslich sehr unterschiedliche Texte oder Denkfiguren. Zum Beispiel «Go tell it on the Mountain» von James Baldwin – das war eines der wichtigsten Werke für «Neon, Pink & Blue» und ist bald siebzig Jahre alt. Oder auch Hi Tiger, Anne-Marie Schwarzenbach und Manon sind bestehende Koordinaten. In der Queer-Theorie haben wir etwas, das die Lesbarkeit von postkolonialen oder feministischen Theorien nebeneinander und auch gegeneinander ermöglicht. Aber wir dürfen auf keinen Fall vergessen, dass wir einen sehr kurzen Ausschnitt von Geschichte überschauen können und dieser so extrem frisiert ist. Alles, was wir Feminismus, Postkolonialismus und Queer-Theory nennen, hat es über die letzten Kulturjahrtausende immer wieder gegeben, in den verrücktesten Ausformungen und in den fantastischsten Konstellationen. Und jetzt sind wir in diesem demokratisierten, industrialisierten, kapitalistischen Rahmen, wo Formen wie ein Musikalbum oder ein Roman existieren. Es ist faszinierend zu sehen, dass man in der Praxis mit diesen Formen arbeiten kann und sich daraus auch eine Kontinuität ergibt: Dass man queere Geschichten mit anderen Geschichten verbinden kann. Zum Beispiel die Geschichte der Verdingkinder mit der Geschichte von Technopartys und Drogen. Ich wurde auch schon gefragt: Wie kannst du das zusammenbringen? Aber es sind gleichwertige Themen, die in den Leben der Menschen heute zusammenkommen.

Der Aufhänger der Republik-Rezension war ausserdem die Kategorie «experimentelle Literatur». Ist «Neon, Pink & Blue» für dich ein experimenteller Roman? Für mich ist das Buch nämlich nicht sehr experimentell.

Ja, danke. Es gibt Vorlagen, die waren extrem experimentell und wie gesagt, jetzt ist es ein scheissbürgerlicher Roman. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass es durchgehend experimentelle Literatur ist, aber es widerläuft doch den Lesegewohnheiten so sehr, dass ich froh bin, wenn jemand sagt, das kann auch experimentell gelesen werden. Ich bin auch froh, dass das Queer-Label an zweiter Stelle kam, nach dem Label der experimentellen Literatur. Dass es also sachliche, literarische Rezensionen gibt und der Text als sprachliches Erzeugnis gelesen wird und nicht als sensationsheischende Freakshow, als Wichsvorlage. Das Problem ist aber auch, dass, je experimenteller ein Text ist, umso mehr Menschen ausgeschlossen werden. Und zwar oft jene, deren Geschichten erzählt werden oder jene, mit denen ich Geschichten im realen Leben teile. Es ist eben nicht ein Heimatroman, in dem ich eine Heimat gefunden habe, im Gegenteil: Meine Sprache hat darin eine Heimat gefunden. Und ich weiss, dass ich da ganz viele Menschen in meinem Leben nicht mitgenommen habe.

Wie ist es mit dem breiten Publikum? Kommen da queere Themen an? 

In einer Zeit, in der die klassischen Vertriebswege nicht mehr so funktionieren, gibt es ein erweitertes Publikum, das um einen Verlag herum entstehen kann, oder um QueerBooks und um Empfehlungen einzelner Buchhändlerinnen und Buchhändler. Inzwischen gibt es kreuz und quer Menschen, die diese Lesarten kennen, pflegen und sie auch zu kritisieren wissen. Man kann sich auseinandersetzen und es ist nicht mehr so: Ah, jetzt darf der Exot auch mal in den Kreis treten. Das wäre vor zehn, zwanzig Jahren anders gewesen. Da wäre es einfach im Regal gestanden und an einem heterosexuellen Publikum abgeprallt. Aber weil es jetzt dieses erweiterte Publikum gibt, kann ich darauf vertrauen, dass wenn es dort abprallt, dem Buch nichts fehlt.

Prallt es denn ab?

Davon bin ich sehr fest ausgegangen und ich habe das auch so erfahren bei Probelesungen und sonstigen Auseinandersetzungen über den Text. Da ist immer auch die Frage, wie selbstverständlich ist man selbstverständlich. Das ist ja genau das, was mich an dieser selbstverständlichen cis-hetero Welt so selbstverständlich nervt, also wie selbstverständlich selbstverständlich die sind. Mein Widerstand dagegen ist aber genauso selbstverständlich innerhalb dieser Matrix. Ich glaube ich bin für Menschen, bei denen das nicht das erste Thema im Leben ist, einladender geworden. Vielleicht kann ich da ja ab und zu mal die Hand reichen. Also nicht zu viel, hoffe ich. Aber irgendjemand muss ja mal anfangen.

«Neon, Pink & Blue» erscheint beim von Ursi Anna Aeschbacher geführten Bieler Verlag Die Brotsuppe. Kris sagt über Die Brotsuppe: «Also es ist so, dass sich Ursi Anna Aeschbacher in mein Buch verliebt hat, ich habe mich in Ursi Anna Aeschbacher verliebt und jetzt haben wir zusammen ein Buch. Ich bin sehr stolz bei diesem Verlag zu sein, neben Noëmi Lerch, neben Francesco Micieli, neben dieser Sammlung von Geschichten von Schwarzen Frauen in Biel und vielen anderen. Es ist eine Schatzkiste.»