Nora wechselt die Welt

An der Bar im Bad Bonn bestellt Nora ein Guinness. «Wenns das schon mal gibt», freut sie sich und trinkt den braunen Schaum langsam am Tisch. Es ist ein warmer Abend und der Mond scheint fast voll, die Luft ist klar und angenehm. Düdingen, trotz allem noch immer ein Fixpunkt, auch wenn nur etwa dreissig Leute hier sind und um elf Uhr Schluss ist.

Casanora spielt heute vor Joe Volk, sie macht das ganz unaufgeregt, steht rechts auf der Bühne neben einer Leinwand mit Visuals. Projektionen von Stadtschluchten und Brücken, Kranen, Viechern und Menschen in verdrehter Farbigkeit, eine Frau, die durchs Wasser schwimmt, ein Sturm. Der Abend ist furchtbar schön und furchtbar traurig. Casanora arbeitet sorgfältig, eine halbe Stunde Sog. Wir nippen am Bier und lächeln, die Köpfe hat sie uns verwirbelt.

Nach dem zweiten Konzert geht Nora heim, wir bleiben noch, solange wir dürfen. Diese ganze Scheisszeit, die Trägheit, die Langeweile – und dann doch nur dreissig Nasen an der einzigen Veranstaltung weit und breit, aber ja, schön war das trotzdem und wir müssen jetzt los.

«Für mich persönlich hat das alles gar nichts mit Trauer zu tun», sagt Nora, der Lockdown, diese Zeit, «aber so fühlt sich das im Moment oft an, wenn du dich umschaust: dass das Glück fast ausverkauft ist.» «Happiness Is Mostly Sold Out» heisst die erste EP, die sie als Casanora Anfang Jahr herausgegeben hat, es gehe dabei nicht um sie. «Es ist ja fast überall noch ein kleines Glück zu finden, wenn man von der Idee des grossen Glücks wegkommt. Überhaupt ist der Titel auch irgendwie lustig, findest du nicht?»

Wir sitzen mit Tee im Obolles, Dienstagnachmittag. Draussen schüttet es den November aus den Wolken, die nassen Jacken und Schals türmen sich neben uns auf der Eckbank. Nora spricht fast atemlos, die Worte fallen ihr schnell aus dem Mund. Man hat den Eindruck, sie müsste selber darüber verwundert sein. Aber fahrig wirkt sie nicht, und auch nicht so, als wüsste sie nicht genau, was sie tut. Was sie will. Kontrolle zu haben über die eigenen Angelegenheiten scheint ihr wichtig, und Nora sagt: «Ich habe ein paar Mal probiert, mit anderen zu arbeiten, das ging immer in die Hose. Da habe ich mich dazu entschieden, alles selber zu machen.» Ein pragmatischer Entscheid, meint sie.

Im Oktober ist ihre zweite EP erschienen, komplett selbständig produziert und herausgegeben, sie heisst «Sadness For Free». «Ich habe sie mitten im Lockdown gemacht. Und immer, wenn ich rausging, hat sich das so angefühlt: Traurigkeit, wo du auch hinsiehst. Für alle verfügbar, für alle frei zugänglich. Aber die Musik ist für mich eigentlich das Gegenteil. Sie ist wie ein Trip nach ganz woanders.»

Man kann sich die Viecher und Stadtschluchten, die Frau im Wasser: diesen Trip auch zuhause ansehen, «Sadness For Free» ist zusammen mit einem gut zwanzigminütigen Video erschienen. Bild und Ton machten für sie je genau die Hälfte aus, sagt Nora, weil beim Hören Bilder entstünden und umgekehrt beim Schauen Musik, so hat sich das organisch ergeben.

Am Anfang steht ein Mensch am Grund eines Schwimmbeckens, er stösst Blasen aus, Schnitt. «Sadness For Free» beginnt leise, im nächsten Bild schwimmt der Mensch davon, wir schauen wie durch eine wacklige Unterwasserkamera, als ein flattriger Beat einsetzt. Ja, ein Trip, denn Casanora interessiert sich dabei kaum für eine Richtung, nimmt Störungen mit offenen Armen, muss auf ihrer Suche nicht unbedingt etwas finden. Irgendwann werden die verzerrten Klänge von einem Klavierintermezzo abgelöst, es tut einem das Herz auf, nur kurz. Dann reisst es wieder ab, die Wassermelone, die eben noch sanft im Kreis gedreht hat, zerschellt an der Wand. Nora sagt: «Es geht darum, in eine andere Welt zu wechseln.»

In eine andere Welt wechseln: Nora, sitzt du fest? «Ach, ich hätte schon gern mehr aufgenommen, mehr gemacht für diese EP, ich war sehr limitiert. Aber ich habe Bern als beschränkenden Radius auch noch einmal anders zu schätzen gelernt in dieser Zeit.» Es sei einiges aufgegangen, Kontakte, Netzwerke, überhaupt eine Wertschätzung innerhalb der Szene, ein füreinander Dasein. Dann entstehe auch mal eine Zusammenkunft, die sonst vielleicht nicht wäre gewürfelt worden; Casanora hat im Gaskessel vor Baze gespielt, im Bad Bonn vor Joe Volk, und natürlich passt das, passt ihr Suchen zum melancholischen Optimismus eines Baze und zur Sehnsucht eines Joe Volk, «es wäre einem ohne diese Beschränkung vielleicht einfach nicht eingefallen.» Aber eigentlich sei es ihr völlig egal, vor oder nach wem sie spiele, «so bleibt es spannend.»

Casanora reicht einem nicht unbedingt die Hand, man muss den Trip schon selber wollen. Hin und wieder streut sie dann aber doch ein wenig Zucker, ein so verschüttelter Popsong wie «White Mint» auf der ersten EP lässt einen innendrin ganz zart werden (und ist, natürlich, auch der mit Abstand am meisten gehörte Casanora-Track auf Spotify). «So sweet, so fucking sweet», singt Casanora, sie weiss das schon.

Und jetzt? Kulturlockdown, die Konzerte für den Herbst alle wieder abgesagt, was wird das bloss für ein Winter. Nora ist froh, dass alles wieder ruhiger wird. «Im ersten Lockdown fand ichs schwierig, all die Ideen zurückzuhalten, aber man gewöhnt sich daran: Du verstaust sie halt auf Abruf. Kannst ja sowieso nicht weiter planen als einzwei Wochen.» Die Ruhe helfe auch so: «Dann komme ich endlich dazu, an neuen Sachen zu arbeiten.» Keine Pause, kein Durchschnaufen? «Ich habe lieber zu viel los. Wenn wenig läuft, beschäftigen mich die kleinen Dinge zu sehr – das macht nur unnötig Stress.» Nächste Woche sei sie wohl so weit, dass sie mit etwas Neuem anfangen könne.

Ein Kopf voller Ideen und Tagträume, aber Casanora ist vielmehr auch eine Macherin. Und wenn das dann alles mal vorbei sein sollte, wolle sie doch noch weg, klar. «Nach England oder Schottland, weil ich glaube, dass das etwas Gutes macht mit meiner Musik.» Gibt es das auch, einen Traum, ein langfristiges Ziel, wo sie hin möchte? «Das ändert sich ständig. Als Kind war ich wahnsinnig fasziniert von Alicia Keys, was sie da gemacht hat, nur sie allein und das Klavier. Ich habe mir gesagt: Mit dreissig bin ich so weit wie sie.»

«Happiness Is Mostly Sold Out» und «Sadness For Free» sind im Januar respektive Oktober dieses Jahres als Eigenveröffentlichungen erschienen.

Foto: Laura Gauch