Rec Out → Primitive Energetics

«Have you seen that documentary about Slint?» fragt Joe Volk, der mich gerne guinea pig nennt, aber sonst ein angenehmer Gesprächspartner ist.

«No Joe, aber Slint ist eine gute Band», sage ich, weil man das weiss. Ich erinnere mich: Irgendein verkokster Expat-Ami, ehemaliger Snowboardprofi, Bruchlandung in Santander, der Stadt, die weit weniger bekannt ist als die nach ihr geheissene Grossbank und im Übrigen ein entsprechend langweiliger Ort – der Typ hat mich damals ohne Absatz darüber unterrichtet, wie visionär das alles gewesen sei: Diese Band, die es bei Erscheinen ihres grossen Albums 1991 schon gar nicht mehr gegeben hat, ein Kuriosum der Popgeschichte, fast verschluckt von einer Zeit, als es noch kein Internet gab, nur Vorstadtkeller voller Peavey-Amps und Zeit und Tagträume. Er hat mir ein Lied auf dem Telefon abgespielt.

«Guinea pig, you have to see that documentary. It’s fucking great.»
«Ok, schick mir den Link.»
«https://www.youtube.com/watch?v=GsRpS6XGiOs»

So haben Slint in Louisville, Kentucky damals den Postrock erfunden. Ein paar Jahre später rauchte in Bristol der Triphop, es war kalter Rauch, und von beidem will heute, zumindest in dieser Terminologie, niemand mehr gern hören, beides wurde in der Verwertungsmaschine der Popmusik abgepackt und entkernt wie billige Apéro-Oliven. Postrock ist heute schlimmstenfalls das, was Informatiker zum Gamen hören und Triphop läuft im Hintergrund, während dir jemand ein beschissenes Herz in den Cappuccino zeichnet.

«Can we start talking about my record, guinea pig? You bore me.»

Auf «Primitive Energetics» hantieren Volk und Band mit beidem, gleichsam originell und originär. Vielleicht musst du aus Bristol kommen, um den Song «Into Your Movements» in dieser Art zu eröffnen; ein himmeltraurig verwunschenes Stück Harmonie, in das sich Volks Gesangslinie einfädelt, als wolle er Beth Gibbons einen lieben Gruss ausrichten. Eine Minute später explodiert das Anliegen mit Trommelwirbel und einem Schrei, von der reinen und ehrlichen Kraft dieser anderen Zeit, als die Wut des Hardcore schwer und langsam atmen durfte und die genialen Pickelgesichter von Slint ihr erstes Album aufgenommen haben.

Zwischen diesen Polen wandert die Platte. Das feingeistige Songwriting vermittelt zwischen den Fliehkräften und hält das Ding bei aller Zerrissenheit zusammen, die Synths, das Akkordeon, das Horn sind weder Schmuck noch Ballast, sind immer Aussage. Auf «Individuation» im Herz der Platte lauert der Kontrabass auf, die Harmonie, an der er runterklettert, sie hat ein blutendes Loch.

Trotz aller Klugheit kriegt Joe Volk die primitive Kinetik nie aus diesem sehr traurigen Album. Jede Feinheit bleibt Gewalt, jede Finte scheint zum Überleben notwendig, jede Tür in der verschachtelten Architektur dieses Albums hat ihre Bestimmung. Sei es nur, sie hinter sich für immer zuzuschlagen.

«Nice try. Have you even listened to the record?»
«Ja. Der Hund auf dem Cover gefällt mir ganz gut.»
«Cunt.»
«Weisst du, in zwanzig Jahren oder mehr wird vielleicht jemand über diese Platte stolpern, irgendwo im Internet oder auf einem Flohmarkt. Vielleicht wird er sich denken: Fuck, da hatte jemand etwas zu erzählen. Oder sie wird sich denken: Irgendwie hat das mit Dringlichkeit zu tun, da musste jemand etwas erzählen. Sie und er werden deine Obsession verstehen, mehr kannst du dir davon nicht erhoffen. Dafür ist dein Album zu gut.»

Joe Volk & Naiare «Primitive Energetics», Glitterhouse Records, 2020.

Rec Out ist da, wo du am Pult den Cinch-Stecker einstöpselst, damit was klingt am Jack-Ende. Bei KSB heisst Rec Out regelmässig Schreiben zu naheliegender Musik.