Die Brass im Blick durchs Guckloch

Als müsste die Sau aus Langeweile durch alle Dörfer geprügelt werden, weht jetzt ein fauler Sommerwind durch den Blätterwald: Es ist die Geschichte vom Mundartreggae-Sänger aus Schüpfen und einem abgebrochenen Konzert. Die Darbietung nicht zu Ende gekommen, weil ein Teil des Publikums Bedenken bezüglich Cultural Appropriation vorgebracht hatte. Und plötzlich interessiert sich auch der Blick für die Kollektivbeiz Brasserie Lorraine, in deren Kastaniengarten das halbe Konzert passiert war. Und findet: «Mit diesem Vorfall erreicht eine gesellschaftspolitische Debatte die Schweiz, die unter dem Schlagwort ‹kulturelle Aneignung› vor kurzem aus den USA nach Europa überschwappte.»

Natürlich ist das erstmal falsch: Die Diskussion ist längst aus dem transatlantischen Internet in unsere Realität «übergeschwappt» – sie ist nichts als Teil aktueller postkolonialer Diskurse und nur belegshalber sei hier auf einen Megafon-Artikel zum Thema verwiesen, der die europäische Auseinandersetzung mit Cultural Appropriation keineswegs eröffnet hat. Er ist anderthalb Jahre alt. Und natürlich wissen das die Journalist:innen, die sich mit Artikeln wie jenem im Blick mit taktischem Kalkül an einen imaginierten Stammtisch setzen, wo auf den Tisch gehauen wird, dass ein bisschen Schaumkrone vom Humpen abfällt, damit dann geraunt werden kann: Jetzt also auch bei uns, diese politische Korrektheit überall – bald wird man nichts mehr geniessen dürfen. Die Verfasser:innen eines solchen Journalismus müssen das gar nicht selber schreiben. In der Kommentarspalte vollzieht sich die Polarisierung, wie sie von solch einer Berichterstattung gleichzeitig angeheizt und ausgenutzt wird, ganz von selbst. Man hat den Skandal, die Fronten sind klar, seinen «Eklat in der Berner Szenebeiz», Klicks, Daumen hoch, runter, schnelle Ideen für seltsamen Videocontent – Schaum.

Was tun? Auf den ersten Blick das Beste: einfach mal schön die Klappe halten. Das wäre eine gute Option, sich der zuspitzenden Medienlogik zu entziehen. Aber mitten im Text, als hätte er sich bis dahin ungefragt von selbst geschrieben, stellt sich die Frage: Warum wollen wir trotzdem schreiben und einzwei Gedanken versuchen zum Komplex der Kulturellen Aneignung?

Weil, wer sich mit Popkultur beschäftigten möchte, sagen könnte: Pop ist ein hochfrequentiertes und multidirektionales Geben und Nehmen, Klauen und Schenken, eine lange, mit manchmal wahnsinnigen Wendungen geschriebene Geschichte von Emanzipationen und Solidaritäten, Ausnützung und Erfolgssucht – und somit ganz tief da drin verwurzelt, wo wir alle stecken: in hyperaktiven Herrschaftsverhältnissen. Dieser Aktivitätsüberschuss, ein Wucher der konstanten Vermischung von kulturellen Ausdrucksweisen, überfordert erstmal jeden analytischen Versuch darüber. Über den Daumen gepeilt aber liesse sich sagen: Der Pop kennt keine Originale. Und sein bisweilen alterslustiger Onkel, der Jazz, weiss ebenfalls von nichts mehr so ganz genau.

Oder wie war das noch mit dem Schlagzeug, das im 20. Jahrhundert zum Rückgrat populärer Musikstile aufgestiegen ist? Es ist eine durch und durch kreolische Assemblage von Instrumenten, zusammengebaut aus Europäischen Marschtrommeln, chinesischen Tomtoms, osmanischen Bronzebecken – im Schlagzeug versammelt sich die ästhetische und politische Geschichte afroamerikanischer Musik. Als kreative Suche nach Klängen für den Aufbruch, aber eben auch als Ausdruck politischer Unterdrückung durch Weisse, die das Spielen von traditionellen afrikanischen Handtrommeln juristisch oder sittlich untersagte.

Diesem komplexen, oftmals hegemonialen, manchmal freundschaftlichen, dann emanzipatorischen Hin und Her beizukommen, braucht viele Stimmen. Erst in dieser Vielstimmigkeit, die sich wie ein konstantes Scheitern anfühlen kann, erhellt sich, was die Sache gerade auch im Pop so kompliziert macht. Als bräuchte diese überbordende Lust an Konfrontation und Spiel sein notwendiges Gegenüber in einer genauso springfreudigen Lust, darüber nachzudenken, Positionen zu verhandeln und Graustufen zu erstreiten. Ist es nicht der grösste Reiz von Pop, dass er uns, als Guckloch, sehr direkt in diesen fortwährenden Aushandlungsprozess schauen und teilnehmen lässt? Und müssen wir nicht protestieren, wenn das Guckloch mit einem Zensurbalken verschlossen werden soll?

Dass die Diskussion um Cultural Appropriation mitten in der Popkultur dreht, hat gute Gründe. Die Legitimität, auf die Problematik von Aneignungen aufmerksam zu machen, sie ist Ausdruck eines emanzipatorischen Prozesses, ein Orientierungspunkt für Befreiung. Sich beraubt zu fühlen und das auch zu äussern, sich die Bühne zu nehmen, stiftet Halt. Auch das ist Pop. Und die Aushandlung, wie berechtigt entweder das Stehlen oder die Klage darüber ist, bleibt ein ästhetischer wie auch politischer Prozess.

Das Sich-Bedienen an einem spezifisch karibisch konnotierten Ausdruck, wie es zum Beispiel der Reggaemusiker aus der Region oder einer wie Stereo Luchs aus Zürich, überhaupt auf der ganzen Welt Künstler:innen tun, hat einen Preis. Die Frage an sie lautet: Wie gut machst du deine Sache? Mit welcher Raffinesse, Virtuosität, Eigenleistung oder Tiefe «bezahlst» du die Benutzung dessen, was eigentlich unsere Sprache ist? Mit welchem Gestus bedienst du dich? In der ästhetischen Verhandlung wird darüber geurteilt.

Dazu stellt sich auch eine politische Frage. Mit welchen sozio-ökonomischen Bedingungen hast du dich einer Sache bemächtigt, hättest du es besser oder sorgfältiger machen können? Oder ist der Anspruch, der in diesem politischen Prozess an dich gestellt wird, aufgrund deiner Hintergründe verhaltnismässig zu viel verlangt?

Zurück in der Lorraine führen diese Überlegungen zum Verdacht, wonach der Schüpfener Musiker im medialen Kreuzfeuer lediglich ein Bauernopfer ist. Ein Musiker, der diesen ästhetisch-politischen Preis, vielleicht nur situativ, nicht zu bezahlen im Stande war. Ebenso wird die selbstverwaltete Beiz zum Bauernopfer, als Beiz, die sie nun mal ist – und schon deshalb nicht dazu aufgestellt, einen globalen Diskurs auf ihren Schultern zu tragen. Einen Diskurs, der auch in Hörsälen und auf Podien kontrovers behandelt wird. Und so gehört die erste Kritik direkt an den in miserabler Verfassung aufspielenden Klick-Journalismus, der sich dem Thema nur zur Empörung annimmt, zurückgesandt, anstatt die scheinbaren Akteur:innen – auf, hinter und vor der kleinen Sommergartenbühne – allzu sehr als Signale zu verpflichten.

Vielleicht kommt es gerade der als schweizerisch gedachten und landesweit inhalierten Position der «Neutralität» gar nicht gelegen, dass zum Diskussionsapparat der Cultural Appropriation nicht geschwiegen werden kann. Die neutrale Position existiert nicht. Dass auch die als urschweizerisch empfundene, sich allerdings erst im 19. Jahrhundert zur «Ländlermusik» verfestigende Folklore auf Kulturgut der Jenischen gründet, ist eine mittlerweile weitherum bekannte Spitze. Der bereits grosse Verdienst der Diskussionen um Kulturelle Aneignung: Es ist unmöglich geworden, zu verschweigen, «sich herauszunehmen» aus postkolonialen Diskursen, die eben nicht erst «vor kurzem» in die Schweiz heruntergefallen sind – auch deshalb schreiben wir. Dass aus der Angelegenheit nun nach Angaben des Brasserie-Kollektivs eine Diskussionsrunde entstehen soll, ist im Sinn der Sache doch sehr erfreulich.

Bild: Einer der Autoren dieses Texts im Alter von etwa fünfzehn Jahren.