Punk Urbain

Rathausgasse, vor dem Eingang zu Serges Plattenkeller, es ist früher Freitagabend, aber schon stockdunkel. Den vorbeifahrenden Velos gehen genau auf Höhe der Riesenbaustelle – dort wo bis vor dem Coco noch das Lichtspielhaus Capitol stand – die Lampen aus. Dazu zieht eine Stalingradbise durch die Lauben und rammt uns ihre Zähne in die Lerchenhälse, als handelte es sich bei der Haut die unsere Schlüsselbeine überspannt um warmes Butterbrot. Im Keller spielen Sun Cousto aus Lausanne den Ephedrinboogie und schreien: «Get the fuck out of my life. I don’t need an other depressive addict. If you don’t cure yourself, I gonna have to kill you by myself.» Zwischen Worten und Taten liegt die See, oder Meerträubel.

Wieder draussen erzählt der Buche Beni, dass er bald, nachdem der Wadenmuskelbündelriss vom Pingpongspielen ganz verheilt sei, seine Traumstelle antreten dürfe: «Ich bin jetzt Gärtner vom Pelikangehege im Dählhölzli.» «Nur vom Pelikangehege?», fragt Flo. «Nein, wenn ich es gut mache bei den Vögeln, darf ich auch die Biber bepflanzen, aber das wird vielleicht etwas witzlos.» Natürlich lachen wir und Alice sagt: «Ich liebe diesen Typen einfach.»

Später treffen wir in einer Scheune zwischen den Gleisen, hinter der roten Brücke, unterhalb der Insel, dort, wo man die Hubschrauber untergehen sieht, wenn der Blick frei ist zwischen den Baggern und Kippladern – dort treffen wir auf weiteres Grüppchen buschiger Gestalten. Der Demi, der sich – wenn er nicht gerade in einem Gletscherspalt zu erweisen sucht, dass schon lange nicht mehr nur das Buch die Axt für das gefrorene Meer in uns ist, sondern eben auch der Pickel in brüchigem Eis – der sich sonst autodidaktisch durch ein Jurastudium gepaukt hat, nur um sich jetzt in der Erwachsenenbildung der Bauernschule Zollikofen mit 24-jährigen Roughnecks aus dem Oberland zum Farmer ausbilden zu lassen und dabei Lückentexte zu Eutern einfüllen muss. Und mit 19 Tonnen Traktor samt Anhänger ins Feld des Nachbarn donnert, weil er müde ist vom immer Aufstehen um 05:00 Uhr und dann Sekundenschlaf. Und der traurig ist, weil sein Lieblingsmuni Donnerhall, ein anfangs renitenter Haufen von Stier, dem er morgens darum immer liebevoll vom Zaun aus auf den Kopf seichte, um zu markieren, wer das Heft in der Hand hält und, an eine im Kern wohl eigentlich devote Natur geraten, daraus einen regelrechten Schmuseklumpen herangezüchtet hatte. Der dann aber zum Besamen ins Graubünden abkommandiert wurde und dort dummerweise auf eine Bäuerin traf, die um das Liebesrituell nicht wusste (und auch wenn, beim besten zuzustehenden Willen, es wäre wohl sowieso ein anderer Seich geworden) und vom Stierhorn eine perforierte Lunge davontrug – der Demi ist traurig, weil sein Lieblingsmuni, weil Donnerhall jetzt tot ist.

Wir essen alle zusammen eine Suppe unten bei den Gleisen, japanische Ramen, zubereitet von Joana, Kuratorin des Skulpturenpark Luginbühls in Mötschwil und vom Stadtplaner Haldi, im Töpferatelier der Scheune. Der Velokurier ist da und die von all den Wagenplätzen, Kulturlöchern und Küchen der Stadt. Der Eismeister der Ka-We-De – früher Chemielaborant, dann Fotograf beim Bund, als die Medienkrise erst gerade angeschlittert kam. Bis zu neun Mal am Tag kehrt er auf der alten Benzin-Zamboni das Eis: «Bei Deadpool wird mit dieser Maschine einer geschnetzelt», sagt er und daneben zieht der Sohn eines Nationalbank-Vizepräsidenten schmunzelnd an einer Ankerhülse. Winston Smith ist keine Zigarettenmarke. Man diskutiert Konzepte, Klub, Kinder und Konzerte, darüber, wie die Leere am besten zu kontern sei, ausser mit den Dosen. Nadine meint: «Man muss aus Lethe trinken; zum Handeln muss man vergessen können. Das ist aus dem Faust, irgendwie so.»

«Punk Urbain», putain, aus uns sind keine Baaders geworden, sondern Seelen. «Die Welt» nicht wollen, sondern Sachen machen, eigene Welten. Arbeit, Politik, Familien, Kunst. «Der Zeitgeist schwankt zwischen Empörung und Resignation» (NZZ), die grosse Erzählung der Gegenwart – fuck it. Im Oktober sagte Alain Berset während einer Rede an der Uni ZH: «Das Groteske ist ein Denkinstrument, häufig präziser als der politische Kommentar, weil es das Inkongruente sucht, statt alles Widersprüchliche schleunigst wegzubügeln.» Er hat eigentlich recht, aber dieser Tonfall – rekurriert auf Friedrich Dürrenmatt, dem nationalen Virtuosen der Groteske schlechthin, zitiert als Eröffnungssatz Gramsci: «Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster», Berset schöpft aus dem Vollen, spricht von den Grossen, Denkern und Künstlern – Gestus Weltveränderer.

Zwei Wochen zuvor konnte man ihn an der Vergabe des Schweizer Musikpreises im Publikum ausmachen, als er der Rede eines Punk Urbain horchte. Gut möglich, dass er eigentlich alles von diesem kleinen Mann gelernt hatte. «C’est la musique qui fait le ton.»

Dieser Text ist ein Dankeschön an alle genannten, umso mehr noch zu nennenden, aber vor allem einen Namen: Louis Jucker, merci.