Das Aare-Quai liegt an diesem Sonntagnachmittag im Licht von gefühlt 100 000 Kilo himmelhochhängender Watte, die Sonne sucht durchzubrennen, auf Halbdistanz etwas Niesenkontur, hinten die Alpenkette – ganz nah gelbes Laub am Boden und dieser Neorenaissance-Bau in seinem Kiesbett, ehemals Hotel Thunerhof, seit 1948 Kunstmuseum.
Sophie Calle, die französische Grande Dame der zeitgenössischen Kunst, erwartet uns in dessen eleganten Zimmern des Erdgeschosses mit acht Werkgruppen: REGARD INCERTAIN heisst die Ausstellung, die noch bis zum ersten Dezember zu sehen ist.
Eine übermotivierte Frau steht im ersten Raum und geigt einer Yogaabendkurs-Gefolgschaft samt Töchter ihre Meinung zum frühen Schlüsselwerk SUITE VENETIENNE aus dem Jahre 1980 – wie sie sagt. Das trübt tatsächlich den Blick und macht uns etwas traurig – die Frau wäre so gerne Kuratorin geworden. Eine andere Besucherin, die nicht zur Gruppe gehört, bemerkt dann relativ unumwunden, dass da zwar viel Text auf Französisch sei, man diesen aber dank dem Manuskript mit den Übersetzungen gut auch lautlos verstehe. Es folgt ein Blickduell nach strukturell althergebrachten Regeln und plötzlich sind wir ganz nah am Thema.
Sophie Calle ist eine Meisterin reduzierter Konzeptarbeiten; sie versteht es, im Graubereich von Privatsphäre und individuellen Wünschen dem weitfassenden und negativ behafteten Begriff des Voyeurismus eine grössere Tiefenschärfe zu verpassen. Beschattung, Neugier, Besessenheit – warum kitzelt uns das so und ist die notwendige Bedingung für dieses Spiel, nicht genau das, wohinter man bei den anderen zu sehen dürstet: das Intime? Reiz entsteht, wo einem der Blick versagt bleibt und sowieso handelt vieles hier vom Fehlen – gestohlene Bilder und was ihre Leerstellen in Museen auslösen beispielsweise, versäumte Erlebnisse oder ganz konkret vom Verlust der Sinne.
Was ist das letzte Bild, das dir geblieben ist, bevor du erblindet bist?
Sophie fragt Direktbetroffene, schiesst Porträts von ihnen und stellt sie neben ihre Erinnerungen ans letzte Licht. Text und Bild immer ganz nah, Vorstellung und Istzustand – Realität und Fiktion? Ist das schamlos, anmassend? Moralin gibts in den Apotheken der Statischen, bei Madame Calle gibts sowas nicht. Ihr Werk ist störrisch undistanziert, aufklärerisch und löst dabei auch Unbehagen aus. Autofiktion und Nabelschau sind Instrumente, die sie nutzt, Oberflächlichkeit zu verhindern und uns als Rezipient*innen zu involvieren, aus der Komfortzone zu locken und klarzumachen: Wirklichkeit ist mehrdimensional und unsere Emotionen öffnen dabei den Raum. Wir brauchen halbdurchlässige Gegenüber – tote Winkel für den Spannungsaufbau und spiegelnde Flächen zur Rückversicherung. Kristallklar oder hermetisch versiegelt hingegen erzeugt kein Relief. Aber alles formuliert die Französin im Indikativ, keine Spur von Befehl – wir sollen uns schliesslich selber helfen.
Etwas benommen stolpern wir über die Schwelle des alten Hotels hinaus ins Grauhell dieses frühen Abends unter der Thuner Goldküste. Der Frauenclub und die Hobbykuratorin haben ihre Kritikerin mittlerweile inkludiert und diskutieren angeregt über das Foto-Textbüchlein Des histoires vraies, das es bei der Kasse aufliegend zu kaufen gibt. Ich staune über diese geglückte Synthese und schäme mich gleichzeitig dafür, dass ich selbst nicht den Schneid aufgebracht hätte, zu sagen, dass mich die Erklärerin von Sophies Welt störte.