Wenn einer am Nachmittag im Botanischen Garten liegt, hat er die Musik von selbst im Kopf. Er hat sich verschiedene Sachen verabreicht und konnte, wollte gar nie schlafen gehen, liegt jetzt da unter seiner Sonnenbrille und staunt dem Himmel zu. Vielleicht wälzt er die nötigsten Fragen, aber kann sie auch wegblasen wie ein – Löwenzahn.
So ist es jedenfalls für diejenigen, die sich aus Kapazitätsgründen nicht auch noch für Pflanzen interessieren können, aber sich trotzdem hier an den Hängen herumtreiben. Das kommt dann schon noch, vermutlich umso heftiger, weil kompensatorisch, aber bis dahin dürfen sie gerne einfach machen, die Pflanzen. Ich muss das nicht verstehen, aber ich finde es gut. Irgendwann wachsen sie auf meinem Grab. Es könnte sein, dass da draussen Leute sind (sind da draussen Leute?), die es ähnlich haben mit der Musik, insbesondere in der Art, wie sie heute Samstagnachmittag aus den Lautsprechern kommt.
Les Digitales – die Digitalen, aber auch irgendwie Englisch, wenn man denn will: Geschichten eines digitalen Zugangs zu Musik. Und ein politisches Programm? «[Wir wollen] die Bewohner:innen der Städte an die Existenz der öffentlichen Parkanlagen erinnern und sie zum Geniessen einladen.» Der Botanische Garten ist. Das Les Digitales wird daher traditionellerweise in Liegestühlen begangen, wo sich beim Tausch von Haschisch gegen Chaitee neue unwahrscheinliche Freundschaften andeuten können.
Zuerst spielen Noi Noi, Herkunft verschieden, flüchtig, irgendwo, wo komische Pflanzen wachsen. Gessica Zinni, die sich mit Gärten im Übrigen sehr gut auskennt. Und Benjamin Fritz, auf dessen schönen Lippen sich immer der nächste Schalk anbahnt. Das seltsame Duo ist schon länger im Freundschaftsbuch verzeichnet. Klingt es vielleicht: ein bisschen, als hätte man House um die anstrengende Aufgabe erleichtert, möglichst viele Leute zum Tanzen zu bringen, dafür einige wenige aber zum Lachen? Es säuselt Arthur Russel mit, Noi-York, Noi-York!, wie es einmal geklungen haben könnte, zwischen den Zeilen, zwischen den Schlägen, Zeiten und Identitäten, da gibt es immer unendlich viele Möglichkeiten. Im Liegestuhl kommt es mir in den Sinn: Dass Noi Noi einmal auf meiner Beerdigung spielen sollten, ein Haufen unehelicher Kinder und gemischtrassiger Hunde wird dazu zu tanzen wissen. Dass die Pflanzen überall so windschief aus abschüssigen Böden einem stets nur halbklaren Himmel entgegenwüchsen –
Später Nyx, aus Bern, Spanien. Sie verrückt etwas: Nämlich habe ich, faul und im Geheimen, nach dem oben umrissenen Konzert schon alles abgeschrieben, was da noch kommen könnte. Es wird sicher so dermassen ernst werden und kühl und innig und erleuchtet, oder noch schlimmer: groovig, Snowboardvideo-Musik ohne Snowboardvideos – ich befürchtete, dass ich mich doch noch auf einen Spaziergang zu den Gewächshäusern machen müsste. Und Nyx, die auch Luz González heisst, kümmert diese polarisierte Auslegeordnung meiner Langeweile einen Scheissdreck, von hinter ihrem Laptop hämmert sie, ja es ist doch ein Schmieden, einen hohen Bogen. Kein Metall, sondern eine Russwolke setzt sich langsam ab, nachdem sie von einem sehr heissen, sehr ursprünglichen Abgrund her in die Luft gegangen war. Sie setzt sich irgendwann ab im tiefsten Tief. Einer im Publikum kann es nicht halten und ruft «Yes Baby!» in die Andacht, in das Flattern der Frequenzen. Ein Kreuz ist es mit der Technoerotik: laut und tief gleich geil? Ist es ein Männlichkeitsproblem? Die Voralpenblume Zinni meint zum Schluss, unbeeindruckt davon und umso beeindruckter vom Eigentlichen: «Mal wieder eines der besten Konzerte seit langem.»
Der Regen will kurz, darf kurz. Es macht sich Marie Delprat ans Werk, aus Basel-Stadt, Frankreich. Die von sich sagt, sie kann eigentlich nur Barock denken, auch wenn sie mit elektronischen Mitteln improvisiert, das nötige Verständnis deshalb hat für das allumfassende Weltenspiel. Sie geht im Stereobild hin und her, sie wogt, den drohenden Monolith immer nur umspielend. Eingangs hat sie eine Flöte zur Hand. Und als ihr zum Schluss das selber Heraufbeschworene rückwärts um die Ohren fliegt, ist es am schönsten, manche schrecken aus ihren Liegestühlen auf.
Und plötzlich ist Sonntag, dazwischen sei ganz viel Text geschrieben worden, leider unleserlich mit einer zittrigen Säublumenklaue, für die unterbewusste Schublade. Nichts für hier. Es ist Sonntag im Botanischen Garten: Die Musik ist abgehauen, die Liegestühle verstaut in irgendeinem Lager oder bereits auf dem Weg nach Zürich. Und der Typ aus der Einleitung liegt im Gras, er sieht wirklich nicht so schlecht aus unter seiner Sonnenbrille. Er beobachtet. Ein Hund scheisst in die Hortensien. Ein Kleinkind auf dem Likeabike nimmt Fahrt auf Richtung Aarebord. Das Elternpaar bemerkt die Abfahrt spät, ruft «Louan! Louan!», aber da hat es Louan, den Leuchtenden, schon über den Birkenholz-Lenker gehauen, zum ersten Mal ganz weit weg von seinen Eltern gespickt.
Les Digitales mit alternierendem Programm: Am 28. August in Zürich, am 3. September in Biel, am 10. und 11. September in Fribourg. Die Kassetten von Noi Noi erscheinen auf Plouk.