22 Arschlöcher und mehr

Warum der Fussball gerade viel mehr fehlt als die Kultur. Eine Streitschrift.

How on earth was that? Irgendwie zur Mitte mit der Kugel, die Zeit drängt. Hinter die Abwehr, die nach Orientierung sucht wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, ein Gewirbel von Waden in allen Himmelsrichtungen. Doch die entscheidende Schuhnummer des Glücklosen liegt etwas zu tief, der Ball kullert durch, Luke Young braust heran mit dem Rückenwind der Entschlossenheit, zimmert sein Geschoss in die obere Ecke – ein Faden ins Angeli, eine Wolke, ein Ofen, ein Topf. Keine Chance für den Torhüter sagt man dann, weil es das Erklärlichste ist im ganzen Mysterium. Zehn Sekunden des Zufalls, der nicht mehr gilt, weil sich einer ein Herz gefasst hat, die Gesetze zu verkehren. Das Stadion steht Kopf und man staunt sich einmal durch die katholische Vertikalachse: Wie zur Hölle, Himmel, how on earth!

Manchmal rettet mir eine solche Szene den Tag. Der Zustupf Lebensfreude aber kommt von ausserhalb der Seifenblase. Drinnen ist es öd. Es wird allerhand produziert im Kreis der Kultur, daran liegt es wirklich nicht. Gerne Stückwerk: Hier ein schrummliges Stubenkonzert in Direktübertragung, da ein verpixelter Videoblog, blecherne Podcasts und lauwarme Standups und rührende Klaviertagebücher, Gedichte, Rezepte und Aphorismen. Alles locker aus dem Holster geschossen, jetzt raus damit, denn morgen ist die Aufmerksamkeit vielleicht schon wieder weg. Die Gemeinschaft der Kulturschaffenden erinnert dabei an unseren weissbehemdeten Abwehrverbund, der oben glücklos in der Dauerschleife feststeckt: Als hätte jemand mit dem Luftgewehr reingeschossen, zappelt der Hühnerhaufen in alle verdammten Richtungen los.

Und als wollten die Gleichgesinnten den offensichtlichen Mangel an Qualität und Dringlichkeit gar nicht sehen, wird freizügig geliebt. Alles ist gut, solange es ist, jeder Durchfall wird beklatscht. Sei es aus Langeweile oder einem übersteuerten Bedürfnis nach Zusammenhalt in der Ungewissheit. Die wortwörtliche Internetkultur dieser Tage ertrinkt im Überflüssigen und verdurstet doch, weil die Kritik versiegt. Denn auf Kritik hat niemand Lust zurzeit – lieber purzelt man liebestrunken durch eine plüscherne Sofalandschaft der Sofortkunst, streichelt sich digital und schickt sich flüchtige, kosten- und folgenlose Liebesbekundungen zu. Denn man ist ganz froh: Wer ein halbes Gedicht auf Facebook posten kann, der lebt immerhin noch.

Das Stadion, wie sehr es mir heute fehlt. Wo es Gewinner gibt und vor allem Verlierer. Wo eine Flanke gut ist oder ein Steilpass missraten. Und wo es Arschlöcher gibt. Überall Arschlöcher: Der Mittelstürmer ist ein Arschloch und der Aussenbieger, der Schiedsrichter ist ein Arschloch, der Trainer, der Präsident oder der Sitznachbar. Jeden kann man ein Arschloch finden aus den niedersten identitären Gründen. Und am Schluss ist es egal. Am Schluss gibt es Gewinner und Verlierer. Und das nächste Spiel mit einem, der sich ein Herz fasst, das alles zu verkehren.

Aber das Wankdorf ist geschlossen wie jeder Theatersaal. Worin also erkennen wir diese schmerzlich vermisste Dringlichkeit des Sports, der ja zurzeit auch nicht mehr ist als ein Häufchen Megabytes, Nostalgie und Re-Re-Live?

Erstens und weniger wichtig: Der Athletik steht die Technologie besser an. Das Geschoss im Eingang dieses Textes verliert auch in der Wiederholung seine Grandezza nicht, Zeitlupe und sechs Kameraeinstellungen können dem Narrativ von Sieg und Niederlage nichts, unterstützen sogar seine genüssliche Überhöhung. Umgekehrt wird die virtuoseste musikalische Darbietung, auch wenn sie von einer hundertausendfrankenschweren Videoregie durchleuchtet wird, sofort ihrer feinstofflichen Mitteilung beraubt. Sie bleibt dann höchstens blutleere Studie.

Aber vor allem sind es die Spielregeln. Jene gesellschaftlich verhandelten und ratifizierten Voraussetzungen, die im Fussball über Sieg und Niederlage entscheiden, die, bei aller Projektions- und Ventilfunktion des Sports, schliesslich gültig bleiben. Zum Glück lässt sich die Kunst diese archaische, durchaus gläubige Anlage nicht überstülpen. In der Kunst hat niemand einfach Recht, ist niemand einfach Gewinner. Dafür ist die Kritik nötig, immer verhandelbar, immer anfechtbar und nie ewig. Fehlt aber die Kritik, dann haben plötzlich alle Recht – und tollen sich wie dummverliebte Teenager, im Rausch der Illusion ihres Rückzugs in die Fruchtblase.

Das Stadion ist nun keine Fruchtblase. Und die so heterogene Gemeinschaft, die sich um den kleinen weissen Ball geschart, die nur knapp noch Gemeinschaft ist, sie wird sich auch in der Krise nicht in die sprichwörtliche Fruchtblase zurückziehen. Im Stadion, im echten und im virtuellen, lässt sich die Reibung nicht wegsolidarisieren. Da bleiben Regeln Regeln und Gewinner bleiben Gewinner. Arschlöcher Arschlöcher.

Denn im Stadion sind wir alle. Die finanziell Gebeutelten und die seelisch Gebeutelten neben allen, denen es gut geht und manchmal zu gut geht. Sitzen wir alle nebeneinander und schauen schön aneinander vorbei. Und vielleicht umarmen wir uns schliesslich doch, wenn einer der unseren sein Geschoss unhaltbar durch die Gegnerwaden gezirkelt hat. Dann freuen wir uns, all die Gesunden und all die Kranken, alle zusammen. Ein müder Rückpass würde uns dazu aber nicht verleiten.

Ein letztes Dribbling noch: Wo sind sie jetzt, die Kranken? Wo sind sie jetzt, die Traurigen und Kaputten? Sie bleiben still. Sie sind nicht zu sehen in den Streams und Feeds, keine Wohnzimmerkonzerte der Kranken und der Traurigen und der Kaputten. Und falls doch, dann bleiben sie unerhört, weil wir sie nicht spüren können hinter Pixeln. Und vielleicht können sie jetzt auch gerade nicht. Weil sie nie einfach konnten, um Trost zu spenden, für ein bisschen Unterhaltung zu sorgen, ein bisschen Kurzeweile zu bereiten. Aber ihr Schmerz ist der Kern der Kunst, ist das, was uns heute fehlt.

Ich möchte wieder krank sein dürfen.
Ob im Wankdorf oder in der Rössli Bar
ist mir eigentlich egal.