Auf dem Zahnfleisch

Ein Sonntagabend im Rössli. Über das Anfangen und das Aufhören.

«Das Beste an einer Zigarette ist der Anfang» lügt V. und erzählt, dass ein Freund von ihr seine Selbstgedrehte spätestens nach zwei Dritteln ausdrücken würde. Weil der Schluss sei eigentlich grusig und ein bisschen Dekadenz sei eigentlich schön. Wir stehen vor dem Rössli im Schermen, dicke Fäden Beinahe-Schnee zwischen uns und dem menschenleeren Bollwerk – lassen einen Vorhang fallen. Sonntag. Zweiundsechzig Stunden hat mir dieses Wochenende nun schon den Kopf verdreht, dreieinhalb hab ich geschlafen. Techno hilft. Das Eisenbahnviadukt flimmert hinter den Fäden, im verdrehten Kopf schwillt ein Brummen an, White Noise im Black Hole – ja, dass ein Schwarzes Loch jetzt alles frässe, der Vorhang fiele finalment – oder dass fünfzig Fuss purweisser Schnee vom Himmel kämen, zur Strafe alles unter sich zu begraben – es wird alles denkbar dann, wenn der Geist verdampft an einem Sonntagabend. Aber zum Glück ist Klimaerwärmung und die Apokalypse hängig und die Kirche leer. Drinnen checkt der Gitarrist sein Delaypedal. Es geht.

Zahnfleisch aus Vevey am See Léman machen sich an ihr erstes Lied. Es fädelt mit diesem stehenden Echo ein und weist direkt in eine wohlig verworrene Kraut-Topographie, deren Erkundung sich die vier Musiker für die Länge ihres Konzerts verschreiben werden. Krautrock hat Hochsaison. Seine Verspultheit, das Federnde, das Verzahnte, die körperliche Dringlichkeit, die nostalgische Verheissung und der intelektuelle Anstrich – Krautrock scheint einer der letzen Sehnsuchtsorte geworden für den dünnen weissen Mann mit Elektrogitarre. Das ist nur einen Moment später schon alles egal, wenn es überhaupt wahr ist, der Zynismus der Analyse zerzaust zum Glück und an seine Stelle tritt Begeisterung – dieser Sog, der einen bis an die Bühnenkante zieht, dahin, wo der Sound zwar etwas schlechter, aber ehrlicher ist und wo man spüren kann, ob eine Band wirklich ineinander verhakt – Zahnfleisch gelingt das auch in den wenigen lauten Stellen des Konzerts, dass es eine wahre Freude ist, dass altes Kraut aufblühen darf im tiefsten Winter. «Komische Krautrock» nennt die Band selbst übrigens ihre Musik – den westdeutschen Ursprung ihrer Vorbilder aus den Siebzigerjahren vielleicht ironisierend, wissend vielleicht um die eigene Originalität.

Das Rössli hat sich für den Konzertabend einen experimentellen Dreisprung aufs Plakat gemalt, der nach zwei Bands schliesslich in deren Verschmelzung münden soll. Das Experiment nennt sich «Service Fleisch» (oder «Zahn Fun») – die zweite Band also Service Fun. Vevey wieder und Zürich auch und durchgängig Jahrgang 1985, sagt der Pressetext. Die vier Herren, die nun auf der Bühne stehen, haben offenbar ihre lustigsten Ethno-Hemden aus dem Schrank gefingert und bitten zum Tanz. «Tropicadelic Rock» meint der Pressetext. Und ja, es steckt eine Idee von westafrikanischer Musik drin im Unterfangen dieser Band, die auch aus vielbeschäftigten Jazz-Musikern besteht und ihr auf Party ausgerichtetes Songwriting mit spassigen Sounds, quirligen Soli und dadaistischen Textfetzen aufzuhübschen sucht. Das durchschnittlich besuchte Rössli tanzt, ich stehe etwas ratlos am Pfosten und versuche in meinem verwirrten Kopf einen Gedanken zu kultureller Aneignung hochzukriegen, scheitere an der eigenen Blödheit und vor dem Kampf der Konzepte – es ist schwierig mit ihnen, gerade, wenn die Birne langsam weich wird. Ich schaue mich um Hilfe bittend um, aber V. tanzt und Urs, der alte Bongbub, er hätte mir sicher einzwei Weisheiten spendieren können, läge er nicht krank im Bett. Aber wenn die Scheisse nicht recht grooven will, dann helfen auch die Konzepte nichts.

Noch vor dem grossen Jam, der die von zwei Bands im Verbund nun heillos überfüllte Bühne zwangsläufig heimsuchen wird, sacke ich ein, pfeife aus dem Letzten, laufe auf dem Zahnfleisch. Vorhang fällt.

Schleicht sich wieder der Zynismus an?
Ist es Zeit, zu gehen?
Ist es Zeit, zu schweigen?

Freundin V. schnippt ihre Zigarette weg und sagt: «Mein Lieblingsmoment beim Rauchen ist das Fortspicken vom Stummel. Das Beste an einer Zigarette ist der Schluss.»