Aufstand aus der Polstergruppe

«Wir sitzen auf dem grössten Sofa der Welt, aber es ist nicht nur bequem», sagt Tanja Spielmann im Innenhof der Reitschule. Durch das spaltbreit geöffnete Tor zum Tojo dringen ab und zu Geräuschfetzen nach draussen. Seit drei Wochen kommen Tanja, die Regisseurin Murielle Jenni und die fünf Performerinnen täglich nach dem Aufstehen hierhin und gehen erst zum Schlafen wieder nach Hause. Dazwischen proben sie für «Sofariot. Warten auf Revolution», mit dem am Donnerstag die Tojo-Saison eröffnet wird.

Dass das Haus in der Sommerpause steckt, kommt ihnen mehrfach zugute. Nebst dem seltenen Glück, von Anfang an auf der tatsächlichen Bühne proben zu können, ist ihnen das Tojo zum Lebensraum geworden: Hier wird gemeinsam gekocht und gegessen, Mittagsschlaf gehalten, diskutiert und ausgehandelt. «Spannend wird’s für mich, wenn Themen nicht nur auf der Bühne, sondern auch daneben verhandelt und gelebt werden», sagt Tanja.

Vor diesem Hintergrund eignet sich jede Performerin ein Vorbild an, mit dem sie sich befasst, an dem sie sich abarbeitet, bis dass sie vielleicht selbst ein bisschen Pussy Riot oder Emma Goldman ist, wenn sie nach den Aufführungen Anfangs September aus dem Tojo auszieht. «Es sind, mit einer Ausnahme, Frauen, die die Sturheit hatten, Ideale zu haben ­– und damit Repression in Kauf nahmen.» Dass Bern nicht in Russland liegt, weiss Tanja: «Natürlich lassen sich ihre Geschichten und Kämpfe nicht eins zu eins aufs eigene Leben ummünzen. Aber herauszuschälen, wo sich Überschneidungen finden lassen, ist das Interessante am Prozess.»

Das Ensemble orientiert sich an Geschichten von Revolution, die nicht als Umstülpung erzählt wird, sondern als Alltäglichkeit. Von einer Revolution, die in der Lethargie versinkt, die tagtäglich zwischen den Sofapolstern eingeklemmt wird, oder: von Heldinnen, die Mut brauchten und ihn aufbrachten. Die Theatermacher:innen operieren dabei (metaphorisch) mit dem Tragebeutel – denn laut der US-amerikanischen Schriftstellerin Ursula Le Guin war es nicht der Speer, der die vorgeschichtlichen Menschen ernährte, sondern der Beutel. Das Unspektakuläre, das Alltägliche wurde aber erzählerisch verdrängt, waren doch die Geschichten der Jagd immer leichter erzählt als die des Sammelns und Sorgetragens. «Dieses kapitalistische und patriarchale Narrativ wollen wir nicht übernehmen», sagt Tanja. Eine Woche nach der Anfrage des Tojo, ob sie nicht die Saison eröffnen möchte, hatte Tanja gemeinsam mit der Performerin Nuria Sánchez ein Ensemble zusammengestellt (was nicht zuletzt daran liegt, dass die meisten Beteiligten auch abseits der Bühne befreundet sind), das Team begann direkt mit der Recherche und der Konzeption für das Stück. Die städtische Kulturförderung befand das nicht für unterstützenswert, worauf die Gruppe beschloss, trotzdem weiterzumachen. Das heisst, drei Monate zu arbeiten, ohne Geld dafür zu sehen. Das schlechte Gewissen, damit den eigenen Berufsleuten in den Rücken zu fallen, kam dann auch zuverlässig: «In dem Moment, indem ich beginne, unbezahlt zu arbeiten, stütze ich ein prekäres Kultursystem», ist sich Tanja bewusst. Sie ist nicht die einzige, der das Theater eigentlich Lohnarbeit wäre: Die Regisseurin und Theaterpädagogin Murielle Jenni, die Lichtdesignerin Lola Rosarot, die Kostümbildnerin Lea Asche Kalfus, die Musikerinnen Estelle Plüss und Simone Gfeller – alles professionelle Kunst- und Kulturschaffende.

Wie es ihre Vorbilder getan haben, möchten sie ihre Ressourcen einsetzen und Verantwortung tragen, aber das Sofa hält sie gefangen: «Ich glaube, viele privilegierte Menschen kennen diese Ohnmacht, diese Handlungsunfähigkeit, die einen angesichts der eigenen Besserstellung befällt.» Die Flucht ins Sofa: Ort des Vertrauens, ein intimer, scheinbar geschützter Rahmen. Jedenfalls so lange, bis die Reels aufgeschaut sind und die Reflexion einsetzt, wie privilegiert man eigentlich sein muss, um überhaupt derart tief versinken zu können ins Möbel – dort lauert sie dann, die Zerbrechlichkeit. «Die Probleme, die wir haben, sind Probleme von Privilegierten. Trotzdem müssen sie erzählt werden. Sie müssen eben hier erzählt werden.»

Sofariot – Warten auf Revolution. Ab Donnerstag im Tojo Theater der Reitschule.

Foto: Moritz Mio Augé