Aus nichts entsteht etwas

Aufgerissene Mäuler im Kirchgemeindehaus. Gruseln, Fremdscham? Zum Chor: als Schwingungsraum, wo vielleicht die kleine Revolutionen stattfinden.

Kurz vor Weihnachten 2021, in den Katakomben des alten Vélodrome in Genf. Ein schartig summendes Stimmengewirr und das Gegenlicht von ein paar Baustellenlampen zum Empfang. Der aus freischaffenden Musiker:innen zusammengewürfelte Chor des Festival Face Z singt – und singt traditionsgemäss die Eröffnung aus. Trost während draussen alles verschmiert und fette Schneeflocken vom Himmel fallen. Und was im nächsten Jahr noch alles kommen sollte.

Noch weiter zurück, die garantierte Hühnerhaut. Früchtetee zur Pause und Mozarts Requiem mitquietschen, auf dem Höhepunkt der Pubertät. Wer ist nicht aufgewachsen mit der einen oder anderen Tonspur von Chor, mindestens einer fernen Erinnerung: an die schwingende Stimmgabel oder unaufhaltsam abstürzende Einsingübungen. Diese Tonspur klingt nach einem Ort von Gemeinschaft und Resonanz für die einen, nach der sprichwörtlichen Vorhölle für die andern, nach Nötigung, Gruseln, Fremdscham.

Chor, wohin man auch hört: Student:innen singen barocke Stücke direkt nach dem letzten Proseminar. Die innig empfundenen Reste eines Heimatbegriffs werden nach wie vor gejodelt geboten, irgendwo auf einer saftigen Matte im Berner Oberland. Und Popmusiker:innen stellen sich gemeinsam auf die Bühne, machen ein sozialkritisches Orchester.

Beziehungsmodi ausprobieren

«Die heutige Chor-Idee ist bürgerlicher Herkunft», sagt Moritz Achermann. Er
leitet den Laienchor Suppléments Musicaux, ein auf klassiche Literatur spezialisiertes Ensemble aus Bern, das sich vornehmlich aus Student:innen nichtmu­sikalischer Disziplinen zusammensetzt. Viele der noch heute bestehenden klassischen Singvereine und Chöre seien in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet worden, aus Protest gegen einen aristokratischen Musikbetrieb. «Natürlich geht die Geschichte des kollektiven Singens viel weiter zurück» – in die Höfe, Kirchen und Kloster. Chor: Das ist auch ein architektonischer Ort – und müsse dabei nicht einmal nur von Sänger:innen bespielt werden. In der frühen Neuzeit gehörte es sich, dass aus dem Kirchenchor auch instrumentale Begleitung zu hören war. «In dieser Bedeutung verstand sich der Chor ganz allgemein als ein Ort der wohlklingenden Vielstimmigkeit.»

«Es wird immer ein bisschen off klingen, niemals wie ein sauberes Unisono. Dafür sind wir halt auf eine gute Art zu schlecht», sagt Zooey Agro. Sie ist die Erfinderin von Carebender – einem Chorprojekt, das sie eigentlich lieber als Punkband verstanden wüsste. Die acht Sänger:innen, ausgestiegen aus der klassisch-professionellen Laufbahn, Parvenues, queere Vögel per Selbstverständnis – da sozialisiert, wo der freien Szene Leben eingehaucht wird. «Sieh dir Kanye Wests Sunday Service Choir an, wo die voll laut singen. Ich dachte immer, im Chor darf man das nicht. Das hat mich inspiriert, Carebender zu machen: laut und spirituell, aber antifaschistisch und ohne diesen christlichen Leistungsgedanken.»

Auch laut und chaotisch-vielstimmig ist das Orchester-Projekt BlauBlau Alle
Sterne, ein jährliches Zusammenfinden von ungefähr dreissig professionellen Musiker:innen, die während drei Tagen ein Programm auf die Bühne stellen. Gespielt wird Musik aus den eigenen Reihen, Popsongs, mit Blasinstrumenten, viel Perkussion – gesungen wird ganz oft im Chor. Wie geht das, ein Konzert in so kurzer Zeit zu erproben – mit einem Haufen, in dem es sich viele gewohnt sind, allein im Mittelpunkt zu stehen? «Es sind viele Leute mit starken Meinungen, die hier zusammenkommen», meint auch Orchesterbassistin Ziska Staubli. Da gehe es darum, sich selber zu moderieren, abzuwägen, sich zurückzunehmen – weil da dieses gemeinsame Ziel ist, das über die individuellen Befindlichkeiten, Wünsche und Vorstellungen hinausweist. «Alle wissen: übermorgen müssen wir raus. Da überlegst du dir schon gut, ob du unbedingt deine Meinung gesagt haben musst.» Trotzdem: Irgendein Gefäss für Anliegen oder Diskussionen zu haben wäre wohl ganz gut, meint Staubli. Sie war für den Cast der diesjährigen Ausgabe verantwortlich, Orches­terleiter Tillmann Ostendarp hat sie nach langen spätnächtlichen Diskussionen über Diversität mit der Aufgabe betraut.

Der Chor als Gesellschaftsminiatur? Gerade darum geht es in kollektiven musikalischen Situationen: Beziehungsmodi ausprobieren, einen konkreten Umgang finden im Verhältnis von der Gruppe zum Einzelnen, von den Singenden zur Chorleitung – oder zur Idee einer Sache. Umso sichtbarer da, wo ausser der menschlichen Stimme nichts ist als die Suche nach der Resonanz. Und wie die Stimme scheint sie aus dem Nichts zu entstehen. Die Resonanz, im Gegensatz zur Homogenität und der Vereinzelung ist sie ein Schwingungsraum, der die Frage nach individueller Verantwortung und dem Grad an Beteiligung immer wieder stellt und in dem sich ein wechselseitiger Prozess von Identifikation und Distanznahme abzuspielen scheint.

Übertrieben mehrdimensional

«Ein gewisser Distanzgewinn tut manchmal ganz gut», sagt Moritz Achermann. «Wenn wir uns als mehr oder weniger säkularisierte Akademiker:innen diesen barocken, bisweilen wahnsinnig ergriffenen kirchlichen Texten zuwenden – da bin ich froh, dass sich keine gruselige gemeinsame Erleuchtung einstellt.» Zwischen den Interpret:innen und dem Text liegen die Jahrhunderte – eine Pufferzone. Dass der Liebhaber:innen-Chor dabei organisatorisch ganz traditionell funktioniert, sich die Stimmen den zwei bestimmenden Instanzen von Literatur und Direktionsstock unterordnen wollen, kann zur Entspannung beitragen, meint Achermann: «Das hat auch mit den Anspruch ans Projekt zu tun: Für die Mitglieder von Supplément Musicaux geht es nicht unbedingt darum, alle Entscheidungen treffen zu wollen. Das kann ja auch ermüdend sein. Im Kern geht es ums Singen interessanter Chorliteratur – wobei ich mich über jede Gelegenheit freue, die einen autoritären Mechanismus und damit auch meine leitende Position transzendieren kann.»

Gelegenheiten, die Zooey Agro nicht abwarten will. Bei Carebender geht es ihr gerade um die radikale Beteiligung, «darum, sich dem Kontrollverlust auszusetzen. Es gibt keine Chefin und keinen Chef.» Am Ende sollten alle mitentscheiden können, vielleicht manchmal sogar müssen. «Und dann will ich gucken, was da passiert.» Die Arbeit mit der Stimme erfordere viel Disziplin, Notenblätter werden keine ausgeteilt: «Du musst dir deine Stimme einfach merken, anders, als wenn du aufs Instrument drückst, du musst sie selber halten und gleichzeitig alles hören, dich Einlassen auf die anderen Körper. Das ist übertrieben mehrdimensional.» Eine Intensität, die nicht allen zu jeder Tageszeit den gleichen Spass macht. Carebender ist deshalb zu einem grossen Teil auch die Aushandlung von Arbeitstechniken, Zeitfenstern und Ritualen, die im Kollektiv funktionieren.

Und dann kann auch die Frage, was überhaupt gesungen wird, zu Auseinandersetzungen führen. Im Song «Cis Männer» der Zürcher Band ENL führt der Refrain «I hasse cis Männer sowieso» während der Proben des BlauBlau-Orchesters zu Diskussionen. Einige freuen sich darüber, doch nicht alle wollen zu hundert Prozent hinter der Aussage und damit auf einer Bühne stehen. Das Stück schafft es trotzdem in die Setlist, wobei eine Person das Stück am Konzert nicht mitspielen mag. Ein Kompromiss, der Anlass gibt, ihn auf die Flexibilität von Begriffen hin zu deuten. Begriffe, die im Diskurs immer wieder auftauchen: Konsens ist so einer, sein Beispiel drängt sich auf. Wie die Aushandlung von Konsens funktioniert, wird sichtbar, wenn man ihn als ebenjenen im Chorkontext so physisch erlebbaren Schwingungsraum begreift, in dem wir uns identifizieren und wieder auf Distanz gehen – immer wieder aufs Neue. Konsens wäre dann nichts anderes als diese Reso­nanz, nicht die verklärte Einhelligkeit, sondern eine Möglichkeitsform, klingende Ambivalenz. So strebt der Konsens den kernspaltenden Kräften einer Polarisierung entgegen, er ist immer da, wo noch Schwingung ist. Eh ja: Es ist mal wieder kompliziert und wir wollen Zeit zum Nachdenken – auch das ein Grund, wieso sich Ziska Staubli zur Episode in diesem Zusammenhang nicht äussern möchte.

Was will der Chor, was kann er sein? Und für wen? «Ich hab eigentlich voll keinen Bock mehr, immer darüber zu reden: Hey, spielst du nicht nur für die Leute, die es eh schon interessiert?» sagt Zooey Agro von Carebender – preaching to the choir oder die Konvertit:innen, sagt das Sprichwort. Chor nach innen, Chor nach aussen: Immer will er klingen, manchmal nur Zusammenhang stiften, Wohlklang sein, will dann vielleicht auch aufrütteln und eine konsensuale Gemeinschaft an den Rand ihrer Resonanzfähigkeit bringen. Und manchmal dient der Chor einfach der Entspannung im Tag verwirrter Gegenwarten, die sich abends irgendwo treffen, um gemeinsam singen zu können. «Und die ehrliche Antwort ist: Ja. Wir singen für unsere Leute. Aber das ist gar nicht so unwertvoll. Manchmal könnten wir noch mehr zusammenstehen. Wir brauchen das trotzdem, für uns selbst. Und was ich Lust hätte zu schaffen: ein radikales Daheim.»

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Novemberausgabe des KSB Kulturmagazins.