Ausweitung der Fussgängerzone

Das Leben nach dem Stillstand findet am Tag statt. In der Nacht ist es fürchterlich still geworden.

Je betrunkener die Leute, desto hemmungsloser werden sie, das war die Argumentation hinter der schweizweit eingeführten Polizeistunde: Schluss um zwölf, ein Dosenbier über die Gass und dann geht heim und haltet euch ruhig. Aber die Innenstadt am Samstagnachmittag ist das beste Beispiel dafür, dass Menschen nicht betrunken sein müssen, um sich hemmungslos nahe zu kommen. Angesichts des sonst so energischen Wiedereröffnungswillen kann man sich schon fragen: Wie viel hat das noch mit epidemiologischen Überlegungen zu tun? Wie viel mit Moral? Und wie lange soll das noch dauern?

Die Kinos und Theater, Konzertlokale und Clubs derweil dürfen für Veranstaltungen mit bis zu dreihundert Besucher*innen ihre Türen wieder öffnen, sofern sie ein Schutzkonzept vorweisen können. Also: Hygienemassnahmen, Abstandsregeln, vier Quadratmeter Platz pro Person. Einem Stadttheater mit nummerierten Sitzplätzen, einem Hallenstadion mag das keine grösseren Probleme bereiten. Aber die kleineren Konzertlokale, die engen Clubs können ihren Betrieb so kaum sinnvoll wieder aufnehmen: Es lohnt sich nicht.

Deren Realität kommt in diesen Vorgaben nicht vor, und es macht es nicht besser, dass die Behörden das auch zu wissen scheinen: «Nun liegt es an den Betrieben, mit einer besseren Idee zu kommen und diese im Schutzkonzept abzubilden», sagt Michael Beer, Verantwortlicher des Bundes für Lebensmittelsicherheit, in einem Interview im Tages-Anzeiger. Also ungefähr: Uns ist auch nichts besseres eingefallen, aber es ist ja auch nicht unser Problem. Schaut selbst, wo ihr bleibt.

Ein guter Club kann nicht ohne Dreck, ohne Spucke und Schweiss. Beim Tanzen, Küssen und Streiten will man sich nahe sein und über Hygiene nicht unbedingt nachdenken. Aber das Nachtleben scheint sich in einem toten Winkel zu befinden, es hat kaum eine Lobby in diesem antihedonistischen Land, das nun sein Tagwerk wieder aufnimmt und zufrieden damit scheint: Ein geordnetes Leben zwischen Gartencenter, Supermarkt und Restaurant, Apérol Spritz in der ausgeweiteten Fussgängerzone. Auf laute ausufernde Konzerte und lange Nächte im Club scheint man derweil getrost verzichten zu können, es war einem eigentlich schon immer irgendwie zu dreckig und zu ungeheuer. Und jene, die den Tag kaum aushalten können ohne den Ausgleich der Nacht: Schaut selbst, wo ihr bleibt.

Dass dieses Land mit Kultur ein Problem hat, zeigt auch ein dieser Tage erschienener Kommentar im Tages-Anzeiger:

‹Was vermissen Sie während des Lockdown am meisten?›, wollten kürzlich die Tamedia-Redaktionen in einer Onlineumfrage wissen, an der über 10’000 Userinnen und User teilnahmen. Resultat: 50 Prozent der Befragten gaben an, ‹Kulturveranstaltungen› würden ihnen fehlen. Zum Vergleich: ‹Freunde und Verwandte treffen› vermissen 81 Prozent, ‹ins benachbarte Ausland reisen› 43 Prozent. Rund die Hälfte aller Menschen sehnt sich nach Kultur – ist das viel? Man kann es auch so sehen: Jeder Zweite kann sehr gut ohne Kulturevents leben, ohne Konzert, ohne Theater, ohne ins Kino zu gehen.

– steht da etwa neben vielen weiteren dummen, kunstfeindlichen Aussagen. Vielleicht hat man das nun davon, sich jahrzehntelang selbst ausgebeutet zu haben: Dieses Land ist es sich eben auch gewohnt, für Kultur kaum Geld auszugeben. Kultur darf nach dieser Auffassung vielleicht Supplément sein, wenn sonst alles gut läuft. Aber das ist Unsinn: Ohne Bücher, Musik, Serien oder Filme – also: ohne Kultur – hätten die meisten von uns den Lockdown wohl nicht überstanden. Auf die Diskussion über Systemrelevanz sollte man sich eigentlich gar nicht einlassen: Die Dringlichkeit der Kunst hat damit nichts zu tun.