Gedanken in und zu sonderbaren Zeiten: Andrea Kaisers Lockdowntagebuch, zweiter Teil.
Tag 10 des Lockdowns: Um herauszufinden, wer Pamphlete verteilt und Wände besprayt, habe ich die halbe Nacht im Dunkeln am Küchenfenster verbracht, Notizblock und Kugelschreiber auf dem Fensterbrett. Da ich in einem eher ruhigen Quartier wohne, kann ich vorwegnehmen: Grad viel passiert hier nicht.
22:00 Nichts
23:00 Nichts
00:00 Immer noch nichts
01:00 Fast hätte ich gedacht, da bewegt sich was – aber nein, nichts.
01:12 Ein Lichtstreifen aus dem Eingang nebenan schwenkt über die Strasse. Eine Schattengestalt schlurft über die Schwelle. Ist das Bindschädler? Er hält einen Stab in der Hand, stellt ihn neben der Haustüre an die Mauer, Metall kratzt auf Stein. Ist das eine Schaufel? Wieso stellt der mitten in der Nacht eine Schaufel in den Vorgarten?
Seine Frau habe ich schon lange nicht mehr gesehen.
*
Tag 11 des Lockdowns: Normalerweise bin ich ja ein gutgläubiger, staatstragender Bürger, der alles mitmacht, sozusagen in der wohligen Masse mitschwimmt; der den Amis Unmenschlichkeit ankreidet und Putin irgendwie cool findet, der auf Israel schimpft und die Palästinenser ausschliesslich als Märtyrer sieht, der gegen die Todesstrafe ist und mittelalterliches zu-Tode-Foltern für Sexualverbrecher fordert, der Genitalverstümmelung bei weiblichen Kindern schrecklich und bei männlichen akzeptabel findet, der den Kapitalismus kritisiert und Angst vor dem Sozialismus hat, der das Missionieren der Kirchen nicht erträgt und seine Mitmenschen von seiner esoterischen Anschauung überzeugen will – und der Männer nur als Täter und Frauen nur als Opfer anschaut. Aber ich habe auch meine finsteren Tage.
Da wurde beispielsweise in der Zeitung die Frage aufgeworfen, ob Diktaturen oder Demokratien die Coronakrise besser bewältigen. Eine Antwort erübrigt sich, weil unsere Demokratie einfach in den Diktaturmodus geschaltet hat. Oder ist das eine Demokratie, wenn mit Notrecht regiert wird? Wenn die Menschen nicht mehr arbeiten dürfen, wenn die Polizei Menschenansammlungen auseinandertreibt? Wenn sämtliche kulturellen und gesellschaftlichen Tätigkeiten verboten werden? Wenn von den Medien eine gleichgeschaltete Berichterstattung verlangt wird?
Hoffentlich werden wir irgendwann wieder zu demokratischen Verhältnissen zurückfinden. Es bleibt die Frage, wie viele bescheuerte Beschlüsse in der Zwischenzeit am Volk vorbeigeschleust werden.
*
Tag 12 des Lockdowns: Momentan kursiert ein Bild von aufgereihten Särgen im Internet, das die Gefahren des Coronavirus verbildlichen soll. Dummerweise stammt die Photographie aus dem Jahr 2013 und zeigt Särge von vor Lampedusa ersoffenen Flüchtlingen; fand damals kaum Beachtung – waren ja auch keine Europäer.
Sind die Automobilisten aggressiver geworden oder bin ich mir Verkehr nicht mehr gewohnt? Ein kleiner Einkaufsrundgang Richtung Zentrum, dreimal fast angefahren worden. Einer hat beim mich ins Visier Nehmen und Gasgeben sogar gehupt.
Das Gestell mit den Männerslips im Migros war mit einer Plane überdeckt. Eine Mitarbeiterin erklärte mir, dass Unterwäsche nicht verkauft werden darf, weil sie nicht zum Grundbedarf gehört. Wie stellen die sich einen Alltag ohne Unterhosen vor? Offensichtlich gehören klebrige Lutschbonbons und Sexheftchen am Kiosk noch zum Grundbedarf. Zuhause stelle ich fest, dass ich Unterwäsche natürlich online bestellen kann, auch bei Migros. Mir fallen die Verschwörungstheoretiker in meinem Bekanntenkreis ein, die ich vor zehn Tagen noch belächelt habe. Aber ich darf mich nicht wieder so in Rage grübeln, ich kriege langsam gefährliche Ansichten.
Anstelle eines erwarteten Flugblatts der Corona Conquistadores finde ich in meinem Briefkasten einen Zettel vor: «Zu meiner Betrübnis wird mir die Existenz abgesprochen. Die Kommentarschreiber in den sozialen Medien verwechseln mich mit dem Chronisten, der für mich protokolliert, wie ich die Coronakrise meistere beziehungsweise in derselben versage. Lucius Brenner (Bindschädlers Nachbar).»
Meine Konsternation ist komplett.
*
Tag 13 des Lockdowns: Der Mensch wird sich immer mehr zum Feind. Ich kann mir noch so Mühe geben, den gebotenen Abstand einzuhalten, Leute, die mir auf der Strasse begegnen, schauen mich angewidert an, manche sogar empört, manche machen eine Wischbewegung mit der Hand, als wollten sie mich aus dem Erdkreis wegschieben.
Die Stunde der Spiessbürger ist angebrochen, die Macht ruft den Kleingeist. Die Parole lautet «Stay the fuck home», die man jedem virtuell ins Gesicht schreien kann, der sich aus dem Hause wagt. Da frage ich mich, ob es noch lange dauert, bis sich Bürgerwehren formieren, die mutmassliche Quarantänebrecher lynchen. Die Zeitungen strotzen von Herzensberichten, wie jetzt die Solidarität gross sei, wie die Menschen einander helfen würden. Dabei wird das «wir gegen sie» nur verstärkt. Der eigene Freundeskreis ist gut, alles andere ist schlecht, das Unbekannte ist Feind. Mir kommt der Geschichtsunterricht hoch.
Und trotzdem: Sobald dann irgendwann diese Corona-Isolationshaft aufgehoben wird, werde ich auf der Strasse den erstbesten Menschen umarmen und mit Küssen bedecken – und wenn er leprös ist.
*
Tag 503 des Lockdowns: Es geht vorwärts, die Lage bessert sich. Heute wurde angekündigt, dass die Schokoladenration anlässlich der Jahresfeier auf zwanzig Gramm pro Person erhöht wird. Das finde ich doppelplusgut! Heute vor einem Jahr haben die Bundesräte Schnebele und Napf das Parlament aufgelöst, die übrigen Bundesräte entlassen und damit die Grosse Wende vollzogen. Das Geschick des Landes ist seither in guten Händen, es gab nur noch einen Zwischenfall. Schnebele hatte ein Komplott gegen das Volk geschmiedet. Das hatte mich menschlich enttäuscht. Aber unser Bundeschef Napf hat das aufgedeckt und entsprechende Massnahmen ergriffen. Schnebele wird morgen auf dem Bundesplatz hingerichtet, zusammen mit Quarantänebrechern. Ich empfinde eine tiefe Liebe für Napf, er ist besonnen, stark und weiss, was zu tun ist. Wie ein grosser Bruder.
Ich muss noch einkaufen gehen. Die Läden haben trotz der Feierlichkeiten und der Hasswoche gegen Covid-22 offen. Rasierklingen wird es wohl immer noch nicht geben, dafür kann ich mich mit Soma und Siegesschnaps eindecken. Wir werden den Krieg gegen Covid-22 gewinnen, da bin ich mir sicher. Wichtig ist nur, dass wir alle zusammenstehen und die rechte Gesinnung haben. Freiheit ist die Freiheit zu denken, was der Bundeschef will!
*
Tag 15 des Lockdowns: Die SP Nord spricht sich gegen eine Ausgangssperre aus, befürwortet aber eine allgemeine Maskenpflicht. Zudem fordert sie eine Lizenz zum Spazierengehen, die man sich mittels einem mündlichen und schriftlichen Examen erwerben kann. Da sollen Kompetenzen wie Abstand halten im Plattformlift, politisch korrekte Grimassen hinter der Maske und kollektive Empörungswellen für Quarantäne-Unwillige geprüft werden. Derweil die SVP Niederbipp händeringend nach Argumenten sucht, weshalb die Europäische Union an der ganzen Misere schuld sei.
Wir haben die Macht in der Schweiz immer belächelt und unterschätzt. Und dann beschliesst irgendein Furz einen Lockdown und Tausende von Kleingewerblern und -künstlern gehen zugrunde. Der Mittelstand wird ausgelöscht, überleben werden nur die grossen Konzerne. Das ist Macht, das ist absolute Macht über Leben und Tod. Und alle scheinen es gut zu finden, da fühle ich mich so richtig einsam.
Später sehe ich einen Polizeiwagen vor dem Haus von Bindschädler, kann aber weiter nichts entdecken. Seltsame Dinge geschehen in diesem Quartier.
*
Tag 17 des Lockdowns: Heute habe ich den ganzen Tag «Sim Lockdown» gespielt. Da kann man im virtuellen Wohnzimmer lustwandeln, ab und zu meldet sich der Blasenmeter und man begibt sich auf die virtuelle Toilette. Sonst gibt es nicht viel zu tun, daher habe ich in diesem Spiel ein virtuelles Tagebuch angefangen.
Die täglichen Corona-News lese ich nur noch widerwillig. Werden eigentlich die Leute, die sich vor Vereinsamung oder existentiellen Ängsten wegen dem Lockdown das Leben nehmen, in der Statistik auch als Corona-Todesopfer eingerechnet? Daneben prüfe ich dauernd mein E-Mail-Konto; wenn man vor lauter Ödnis auf Spam-Mail hofft…
*
Tag 18 des Lockdowns: Der wahre Schrecken der Coronakrise wird allmählich offenbar. Nachdem jeder sich berufen fühlende Tonkünstler ein Video produziert, in dem er mit umgeschnallter Holzgitarre ein Lied zum Besten gibt, wird nun die Literatur in Mitleidenschaft gezogen. Eine Autorin kann wegen des Lockdowns ihr verschlüsseltes Selbsterfahrungsbuch nicht öffentlich an einer Vernissage vorlesen, daher lässt sie einen Kurzfilm drehen. Während sie mit betrübt-pikierter Miene, um die Ernsthaftigkeit ihres Werks zu unterstreichen, Passagen in holprigem Hochdeutsch mit kratzendem Schweizerakzent vorträgt, schleift, tippelt und dengelt daneben ihr mutmasslicher Lebensabschnittspartner mit seinen Fingern auf einer Kupferschale herum. Oder ist es angemaltes Blech?
In «Sim Lockdown» wurde ich von einem Bürgerwehrtrupp totgeschlagen, der mich beim Leeren des Briefkastens erwischt hat. Das Lachen ist mir im Hals steckengeblieben; nach den Meldungen über die Denunzierlust der Schweizer und der uneingeschränkten Zustimmung des Volkes für alles, was sich der Bundesrat so einfallen lässt, halte ich ein solches Szenario nicht für besonders unrealistisch. Vielleicht lade ich die Expansion «Sim Einzelhaft» auch noch runter, obwohl Kritiker finden, es enthalte eigentlich nichts Neues.
*
Tag 19 des Lockdowns: Die Frau Bindschädler ist tot. Als ich heute Vormittag die Haustüre aufschloss, um meinen Briefkasten zu leeren, stand der Bindschädler auf der Matte und wirkte völlig verstört und aufgelöst. Nach einem kurzen Moment, in der wir einander etwas hilflos in die Augen schauten, brach es aus ihm heraus: «Meine Frau ist tot. Sie hat sich erwürgt. Mit einem Strick, im Keller an der Türklinke.» Er schaute zu Boden und schien meine Schuhspitzen zu fixieren. Ich war Nebendarsteller eines Stummfilms. Unvermittelt drehte er sich um, lief zu seiner Tür und verschwand in seinem Haus. Ich stand noch eine Weile bestürzt da, bevor ich mich zurückzog (und dabei noch den Briefkasten vergass). Hat sich das arme Seelchen wirklich das Leben genommen oder hatte es mit der Schaufel Bindschädlers doch irgendeine Bewandtnis? Eigentlich wollte ich ja heute zukünftige Aufgabenstellungen formulieren, aber mich liess diese Geschichte nicht in Ruhe. Beim ziellosen Rumstöbern in vergilbten Dokumenten aus meinem persönlichen Pleistozän stiess ich auf eine Notiz aus jungen Jahren: «Ich bin Autor. Das Geschick jedes Einzelnen dieser Welt liegt in meiner Feder.»
*
Tag 20 des Lockdowns: Die finanzielle Lage wird drückend, ich muss neue Einkommenskanäle finden. Von diesem Gedanken begleitet, stehe ich am Küchenfenster, nachdem ich dem Kühlschrank ein herrlich erquickendes Perrier entnommen habe; seit Perrier zur Nestlé-Gruppe gehört, schmeckt es noch besser, noch erfrischender! Draussen rauscht ein Audi S8 plus 4.0 TFSI vorbei, fast lautlos, formschön und doch kraftvoll mit seinen 445 kW – das sind 605 PS! Der macht locker 305 Sachen. Gemäss der eingebauten Mess-Software «Audimeter» quasi null Emissionen!
Angeregt durch eine Marlboro, die mir immer das Gefühl von Freiheit und Abenteuer verleiht, blättere ich in der Brigitte – eine sehr informative und unterhaltsame Zeitschrift – und stosse dabei auf eine Anzeige von <hier könnte Ihr Produkt platziert werden> mit höchst aufschlussreichen Informationen. Ich muss mir <Ihr Produkt!> zur Erhöhung meiner Lebensqualität unbedingt anschaffen! Dabei überlege ich mir, welche Partei ich bei den nächsten Wahlen berücksichtigen soll.
Natürlich die FDP! Die FDP unterstützt die Wirtschaft, hat ein Herz für den Mittelstand und ist voll ökologisch drauf! Ganz zu schweigen von den überaus sympathischen Kandidaten, die sie aufstellt. Warum mir grad jetzt Kondome einfallen, weiss ich auch nicht. Aber wenn schon, dann Ceylor! Die sind absichtlich ein bisschen eng, um dem Manne ein schmeichelndes Körpergefühl zu vermitteln. Sie riechen gut, sind anschmiegsam und doch reibfest – man kann sie sogar an Kindergeburtstagen verwenden, um Ballontiere anzufertigen und damit ein Lachen auf jedes Kindergesicht zu zaubern. Wenn ich eine junge, attraktive Frau wäre, würde ich Männer bevorzugen, die Ceylor verwenden. Zudem würde ich mir täglich Revitalift Laser 3x Anti-Age Glykol-Komplex von L’Oréal auftragen. Damit sähe meine Haut zwanzig Jahre jünger aus – meine Freundinnen würden vor Neid erblassen.
Sponsoren, meldet euch!
*
Tag 21 des Lockdowns: Der alte Bindschädler beäugte vorgestern meine Schuhspitzen, weil ihm dort der Dreck auffiel, Erde vom Garten, zumal seine Frau sich gar nicht das Leben genommen, sondern ich sie liquidiert und verscharrt hatte, da sie nämlich eigentlich Lady Diana war, die damals in Paris ihren Tod im Tunnel nur fingierte, um danach dem nordkoreanischen Geheimdienst beizutreten, zusammen mit Bruce Lee, um in der Schweiz Konstruktionspläne für Raketen, die für den Nationalfeiertag bestimmt sind, zu stehlen, damit die Missiles vom Kim Jong-un auch tatsächlich mal fliegen, weshalb dann Donald Trump seine Grossnichte, die hier unter dem Decknamen Loredana operiert, beauftragt hatte, zu intervenieren, mir aber bis heute nicht ganz klar ist, wie ich eigentlich ins Spiel kam. Irgendwo tauchten noch der alte Guisan und meine Grosstante Adeline auf.
Selten so einen Kohl zusammengeträumt. Passiert ist heute nichts.
*
Tag 22 des Lockdowns: Im Vestibül nichts Neues.