Beim Heugel

Samstagmorgen in der Stadt war für mich als Kind immer ein Wechselbad aus Langeweile und gerade so viel Interesse, um Mal für Mal doch wieder mitzugehen: Markt in der Münstergasse, Tiefpunkt Ewigkeit im Buchladen, Wurstredli probieren, einen Apfel geschenkt kriegen. Und zum Schluss dann meistens, auf dem Weg retour Richtung Kornhaus: ein Halt bei einer der schönsten Theken Berns, die mich trotz meiner müden Beinen fasziniert hat. Auf der kleinen Ablage durfte man sich nicht hinsetzen, auch als Kind nicht. Dafür gabs hinter dem Glas eine Menge zu sehen. Käse, so dunkel und brüchig, dass man das Brennen auf der Zunge beim Anschauen zu spüren glaubte, Weichkäse satt im riesigen Holzrund; daneben Äpfel in Harassen, Milch, Süssmost, kleine Tafeln mit Kreide beschriftet: Berns beste Fonduemischung. Hinter der Theke zwei Paar starke Arme, die mit einem Draht die riesigen Käselaibe zerschnitten. Und unter dem Laden der Sandsteingewölbekeller, wo der Käse reift.

«Zur Käshütte» heisst dieser Ort, das weiss ich, weil ich es vorhin recherchiert habe. Denn damals und immer noch hiess es einfach: «Gehen wir noch zum Heugel.» Der Heugel stand dann immer hinter der Theke, oft zusammen mit Frau Zbinden, Lebenspartnerin und jahrelange Mitarbeiterin, Grüessech. Und er sagte über den dunklen brüchigen Käse: «Ach, der, den hatte ich irgendwo im Keller vergessen, ich weiss gar nicht genau, wie alt der ist», oder über den weichen: «Der läuft so schön, der ist wahrscheinlich vor Ihnen zuhause.» Man durfte ausprobieren, obwohl es kurz vor dem Mittagessen war. Und Herr Heugel freute sich, wenn ich die Sugus ablehnte und lieber mehr vom Käse haben wollte. Noch viele Jahre später wurden meine Eltern, wenn sie ab und zu vorbei gingen, gefragt, wie es denn der Tochter ginge: diesem Kind, das lieber Käse mochte als Süsses.

Ich wurde älter und musste am Samstagmorgen länger schlafen, und als ich von zuhause auszog, rechnete ich den Besuch im Käseladen nicht in meinen Budgetplan ein. Und Herr Heugel wurde auch älter und wollte mehr Zeit mit Segelflugzeug und Rennvelo verbringen als auf der Arbeit, und also in Pension. Aber was passiert mit einem Geschäft, über ein Jahrhundert schon geführt von der Familie Heugel (gegründet hatte den Laden die Urgrossmutter), wenn es keine Kinder gibt, die den Laden weiterführen wollten? Man kann dem Schweizer Fernsehen danken, für einmal: Eine Ausgabe von «SRF bi de Lüt» über diesen wunderlichen Laden in der Berner Altstadt, der ein wenig aus der Zeit gefallen scheint mit dem Mass an Qualität und Wissen und Atmosphäre. Das gefiel vielen, und weil Herr Heugel in der Sendung sagte, er wisse nicht, wie es nach seiner Pension weitergehen solle, meldeten sich einige Leute bei ihm – so dass er am Ende aussuchen konnte, wer ihm am besten passte als Nachfolger.

Und so ging Herr Heugel in Pension, 2014, nach neunundvierzig Jahren Käshütte. Und wie das so ist bei solchen Ladenbekanntschaften oder eben Nicht-wirklich-Bekanntschaften, habe ich Herrn Heugel nicht mehr gesehen, wo und wozu auch. Er war am Segelfliegen und auf dem Rennvelo, denke ich mir, und ich halt anderswo.

Diese Woche hat mir mein Vater erzählt, Dieter Heugel sei gestorben, eine Weile schon her, er habe die Danksagung nach der Abdankungsfeier in der Zeitung gelesen. Auch Todesanzeigenlesen ist eine Tätigkeit, die ich in meiner Kindheit zurückgelassen habe; die Todesanzeige finde ich im Internet. Am 23. Juni ist Dieter Heugel gestorben, unerwartet, heisst es, und ein wenig zu still.