Das Projekt Gentrifizierung ist erst dann abgeschlossen, wenn sich niemand mehr daran erinnern kann. Wenn das Wissen verschwunden ist um die früheren Bewohner*innen, die Kämpfe, die Gegensätze, das Wissen um Veränderung und Verdrängung. Wenn das alles weg ist, kann man über die glatte Oberfläche der beruhigten Strassen und herausgeputzten Lokale rutschen und die Länggasse zum Beispiel so beschreiben:
Die Länggasse ist nicht nur Uni-Quartier, sondern Treffpunkt und Zentrum für alle, die es etwas gemütlicher nehmen wollen. Es gibt viele kleine Cafés und Lädeli. Im Sommer wird gar ein Teil der Mittelstrasse (ca. 150 m) an zwei Abenden pro Woche zur autofreien Zone erklärt, sodass die Berner*innen ihren Fiirabe flanierend, Gelati essend, Bierli trinkend und auf Bobbycars rumkurvend ungestört geniessen können.
Hurra! So steht das im kürzlich erschienenen Literarischen Reiseführer Bern, mit Texten von neunzehn Autor*innen: Wir lesen von Züri West, vom Tanz dich frei, der Reitschule – vom Zytglogge und der Matte, von Tichu und der Aare. Und dazwischen gelbe Seiten als Lexikon, ein schmissig geschriebener Wegweiser zu allerhand Orten, zu vergessenen und allzu bekannten. Das klingt hübsch und ist auch hübsch aufgemacht, und die Stadt erscheint so wahnsinnig hübsch, man möchte sich darüber erbrechen.
Ein literarischer Reiseführer für Bern ist eigentlich ein Versprechen. Und darum könnten wir auch da beginnen, wo wir uns einig sind:
Eine Stadt hat viele Gesichter; sie hat auch viele Stimmen. Sie erzählt uns etwas, wenn wir ihr zuhören. Sie lässt uns erzählen, zwingt uns zu erzählen, wenn wir uns auf sie einlassen. Eine Stadt erleben heisst Geschichten erleben.
Aber so viele unterschiedliche Stimmen sind es dann doch nicht, die diese Stadt besingen, auch wenn die einzelnen oft in Ordnung sind und manchmal ganz wunderbar (Noemi Somalvicos «Fridu im Fruchtwasser» über Fridu, der den Bauch seiner Mutter seit zwanzig Jahren nicht verlassen hat zum Beispiel ist eine Perle). Doch Bern bleibt starr im Postkartenformat, Sujet um Sujet von diesen einzigartigen Sandsteinwänden und der alten de Meuron und dieser schönen, schönen grünen Aare. Die Obdachlosen sind ein willkommener Exotismus im Tram, ein urbanes Ornament. «Und auf dem Weg durch die Altstadt hat man ohnehin das Gefühl, man flaniere verträumt durch ein Museum.» Übrigens hat Bern Welcome diesen Band nicht unterstützt.
Klar: Das Dead End kommt auch vor, das Casa Marcello und die Reitschule. Das ist gut und wichtig. Aber es fehlt der gutgemeinten Idee an der kritischen Perspektive, die eine literarische Sichtweise auf die Stadt schon leisten dürfte. Das Bern der Marginalisierten und irgendwie Randständigen, die Stadt ohne Kinderwagen und Erwerbssicherheit verdampft fast gänzlich im touristischen Wellnessprogramm. Überhaupt ist wohl das Befremdlichste an diesem Reiseführer, wie unpolitisch er in seiner Betrachtung der Stadt bleibt. Ein so wichtiges Kapitel der Berner Drogenpolitik wird dann eher lapidar abgehandelt: «Die ‹Kleine Schanze› war aber nicht immer ein kinderfreundlicher Ort der Begegnung und der Ruhe. 1988–1990 verlegte sich die offene Drogenszene Berns im Rahmen der Räumung der Münsterplattform auf die Parkanlage. Es habe gerochen wie in einem Schlachthof, in den jemand Kompost ausgeschüttet hat, während in einer Ecke Menschenschiss lag. Die Nähe zum Bundeshaus behagte dem Bundesrat nicht, woraufhin der Park in einer Nacht- und Nebel-Aktion geräumt wurde.» Und die Leute im Park, wo sind die hin? Der Verweis auf das Fixerstübli, das 1986 als Pionierleistung eröffnet wurde und mindestens einen eigenen Lexikoneintrag verdient hätte, wird dahinter in einer Klammer versorgt.
Lassen wir uns auf die Stadt ein, könnte sie uns auch andere Geschichten erzählen: Von der Länggasse, die einmal Arbeiter*innen- und Universitätsquartier gleichzeitig war und die Gegensätze immer in sich trug, von Berner*innen, die keine Zeit haben für Gelati und vielleicht auch keine Lust darauf. Die keine Lust haben auf das Klischee der Gemütlichkeit. Denen die Länggasse und manch anderes zu schick ist, um es dort irgendwie gemütlich finden zu können. Von Orten und Menschen, die verschwunden sind oder solchen, die nicht zum rotgrün eingemitteten Standortmarketing passen. Die in den Prospekten für den Fremdenverkehr retuschiert sind, in der Literatur aber gehört werden sollten.
Seltsam eigentlich, dass sich auf zweihundert Seiten niemand findet, der diese Stadt hasst – und doch nie von hier wegziehen würde.
«Literarischer Reiseführer Bern» ist 2020 bei Das Verlag erschienen. Ein ähnlich nettes Projekt, von der Burgergemeinde nicht nur unterstützt, sondern gleich initiiert, gibt es übrigens bereits: Es heisst «Bärn isch eso».