Vom Weyerli zum Alima Supermarkt dauert es mit dem Velo knapp drei Minuten. Die Haut brennt ein wenig von Chlor und Sonne, vorbei an Industrie und Gleis scheint sich der Asphalt unter den Reifen vor Hitze aufzulösen. Kannst du das Meer riechen?
Ob Deutschland auch zugepflastert sei mit Plakaten für Ferien in Deutschland, frage ich einen Freund von dort, als wir mit dem Auto Richtung Seeland fahren, Felder, Wald, Felder, verstreute Einfamilienhäuser. Er lacht. «Spinnst du», sagt er, «denkst du wirklich, in Deutschland hätte irgendwer Geld für sowas?»
40 Millionen für den Schweizer Tourismus hat das Parlament gesprochen und ausserdem einen Brief geschrieben, «Liebe Bewohnerinnen und Bewohner unserer einzigartigen Schweiz» – man ist sich einig, was zu tun ist diesen Sommer: in der Schweiz bleiben. Die Berge sehen, die «kleinen Weltwunder» in den Naturparks, Wildblumenwiesen und Sommerrodelbahn, Murmeli, Camping, Estavayer. Schweizer Folklore vom Feinsten: Haben wirs nicht schön.
Weit im Westen der Stadt derweil ist von der schönenschönen Schweiz der Plakatwände wenig zu spüren. In Bethlehem liegt Industrie neben Plattenbau neben Hochhaussiedlungen. Der Rasen dazwischen gehört den Kindern, der Parkplatz vor dem Migrolino den Alkis, seit sie seuchenbedingt ihren angestammten Platz an den Stehtischen drinnen verlassen mussten. Von den Balkonen zwischen Untermatt und Tscharnergut klingt Italienisch, Albanisch, Tigrinya. Im Westen ist die Sicht auf Bern eine andere, weil das Gefühl hier anders ist – anders gemacht durch jene, die hier sind. Weil sie sich bewegen konnten, wollten, mussten: von dort nach hier.
Also profitiere ich von ihrer Bewegung. Also ist das hier mein Exotismus, also bin ich hier in Beobachterinnenposition. Ich lerne Ibrahim kennen, sein Velo ist sehr viel kleiner als meines und doch will er mitfahren, als ich sage, ich fahre in die Stadt. «Dein Freund?» kreischt er auf, als ich sage, ich fahre zu einem Freund und dass ihm dann vielleicht langweilig sei dort, wenn er mitkomme. So lässt er es dann bleiben. Die Erwachsenen sagen höchstens mal hallo, es ist ihnen nicht zu verübeln, ich wohne hier und gehöre nur halb hierher. Vom Fenster aus beobachte ich neidisch, wie sie unten im Dutzend den Fleck Rasen zwischen unserem und dem Nachbarsblock mähen. Von den orange überdachten Betonbalkonen gucken sie zu, der alte Mann im weissen Unterhemd und die italienische Mamma: «Eh, lasciami, sto cucinando!», ruft sie ihrem Sohn zu, der irgendetwas will von ihr. Das verträumteste Kind der Siedlung, Ibrahims bester Freund.
Also muss ich tatsächlich nicht in die Ferien fahren, weil das hier mein Bern ist, wie ich es noch nicht kenne. Aber die Schweiz, für die geworben wird, auf unzähligen Affichen auf meinem Weg ins Seeland oder in die Stadt, ist eine Schweiz versehen mit patriotischen Spitzmarken. Sie ist ausgestattet mit Kühen und saftig grünen Landschaften, sie lebt vom Bild der Grösse im Kleinen. «Wir brauchen Hochkultur» und meinen damit nur, auf einem Berggipfel zu stehen. Nirgends ist das Wasser so klar, nirgends die Luft: «Wir brauchen Schweiz.»
Aber all jene, die hierher gekommen sind und denen die Schweiz nicht die einzige Heimat ist, die den Sommer normalerweise im anderen Zuhause verbringen – wo sollen die jetzt hin? Auf Kräuterwanderung ins Puschlav? Die vorgeschlagenen Ersatzhandlungen auf den Plakatwänden in der Schweiz, die die Schweiz bewerben, sind für Schweizer*innen gemacht. Auch der Stolz soll unser bleiben.
So werden auf der Fernverkehrsschiene fleissig Mythen weiterproduziert, die eine Schweiz nicht nur für die Reisenden von aussen, sondern nun auch gegen innen als Land des Matterhorns und der Alphörner prägen. Und es irgendwie hinkriegen, gleichzeitig so zu tun, als hätte man eben alles da, bei sich, in unserer Schweiz: Zürich statt Grossstadt, Bodensee statt Meer. Jura statt Kanada. Stolz auf die Bescheidenheit, Stolz auf die Vielfalt im eigenen kleinen Garten. Nur ist hier mit Vielfalt eben eher die Biodiversität auf den Matten im Emmental gemeint als die 37,5 Prozent, die Menschen mit Migrationsgeschichte in der Schweizer Bevölkerung ausmachen. Deren Schweiz auch Schweiz ist. Deren Sprache auch hierher gehört, und ihr Essen, und ihre Konflikte. Es wäre an der Zeit, auch diese zu «unserem» zu machen.
In der Schweiz bleiben konnte man schon immer. Ja, es ist verruckt schön hier. Und dass die Schweiz so eng ist, hat den Vorteil, dass man unwahrscheinlich schnell wieder draussen ist. Sich jetzt aber vor allem darüber zu echauffieren, nicht mehr ungehindert überall hinfliegen zu können – da wurde wohl irgendwas mit Rechten und Privilegien durcheinander gebracht.