Bevor das Meer sie auffrisst

Am Ende stolpern wir betrunken auf die Strasse, als wäre alles wie immer.

Am Samstag vor genau einem Jahr war die Stadt lila, heute ist sie schwarz. Ab dem frühen Nachmittag strömen dunkel gekleidete Menschen auf den Bundesplatz, Berns erste Black-Lives-Matter-Demonstration zieht Tausende an. Ich sitze auf dem warmen Boden und erinnere mich daran, wie sich eine Demo anfühlt; aber doch ist es anders als sonst. Dieser Anlass ist keine Kirche, auf jeden Fall nicht unsere.

Fokus. Die Menge richtet sich zur Mitte, hört schweigend denen zu, die da reden, die sagen: hört uns zu. Die wütend sind und bestimmt. Polizei ist keine zu sehen, und man erinnert sich, wozu die Stadt auch da sein kann, wie ihre Strassen und Plätze aussehen können. Ein mittlerweile seltsam gewordenes Gefühl des gemeinsamen Hierseins.

Der Regen wäscht die Wärme weg und irgendwann auch die letzten Demonstrantinnen, macht den Sonntag kühl und weiss. Heute erinnern lila Luftballons an den Tag vor einem Jahr, als der Frauenstreik gezeigt hat, wie dringlich eine Bewegung trotz ihrer Diversität sein kann. Heute ist die Demo klein, aber laut. Ich schaue vom Fenster aus zu und sehe meine Mutter mitlaufen. Ein Video auf Facebook: In Lausanne haben sie laut lachend und schreiend das Patriarchat verbrannt, es ist sehr schön, dem zuzuschauen.

Am Abend ist der Regen egal und dass der Sommer noch gar keiner ist, weil ein lange kalt gestandener Raum warm ist, warm und voller Leute. Die Bar klimpert Campari Bier vor sich hin und ein Freund sagt, «ich bin so verschliffen und so aufgekratzt gleichzeitig», er habe sich unglaublich gefreut. Vielleicht beschreibt er das allgemeine Gemüt hier drin. «Long Time No See» stand im SMS, das in den zwei Tagen davor rumgereicht wurde, wer spielen würde, blieb ein Geheimnis.

Fokus. Eine kleine, sehr grosse Frau auf der Bühne, die den Raum mit Stimme und Baritongitarre bis oben füllt. Evelinn Trouble schaut streng und lacht, ist entspannt und wütend, ja, wohl auch sie: verschliffen und aufgekratzt. Sie erfindet zwei Liebende, die auf einer Insel ihre letzte gemeinsame Nacht verbringen, bevor das Meer sie auffrisst, covert Johnny Cash, ihre Band Omnilove und sich selbst. Auch Hawkwinds «Silver Machine», in 0.75-Geschwindigkeit ungefähr: weil es besser klingt. Erzählt ein bisschen davon, wie sie hierher gekommen ist – am Donnerstag angefragt, janu, warum eigentlich nicht; vergisst, ihre Gitarre umzustimmen. Verweist auf die Black-Lives-Matter-Bewegung, sagt: «Educate yourselves.» Ein paar Mal setzt sich Rea Dubach mit ihrer Blitzgitarre neben sie auf die Bühne und trägt mit. Und alles so dringlich und so leichtfüssig zugleich. Keine Ahnung, wie lange es dauert.

Ich erinnere mich also, vorne in der Ecke sitzend, wie sich ein Konzert anfühlt. Dass auch das viel mit Gemeinsamkeit zu tun hat und wie sich in der Brust etwas auftut. Fast alle, habe ich den Eindruck, umarmen sich an diesem Abend mehrere Male. Teilen Zigaretten und Getränke, lächeln sich dummverliebt zu, sind sehr bewusst hier und auch sehr gelöst. Wir hätten uns überall gefreut, einander zu sehen, aber es ist wichtig, dass es hier ist.

Später dominiert R.s Schwäche für Schlagerpunk und Berliner Luft die Bar. Es spricht für den Abend, dass da niemand aggressiv wird. Als wir gehen, sitzt R., der eigentlich gar nicht kommen wollte, immer noch am Tresen. Er hat den halben Abend mit jemandem gestritten und viel gelacht dabei. Nun ruft er ihm zu: «Wahrscheinlich werden wir Freunde.»

Die «Long Time No See»-Rituale 2-4 finden am 23. Juni, 28. Juni und 5. Juli statt. Ein SMS geht rum.