Billard mit Seil

Coop Restaurant Wankdorf, gerade im Sommer, bei blauem Himmel – wenn der Tumult der Familien, die sich an Ferien oder Badewiesen versuchen, ausbleibt – kommt man hier besonders schnell in diesen Sog, ein befremdend befriedendes Vakuum. Die unerwartete Geborgenheit, ich denk in Kantinen oft an Oasen, Orte der permanenten Durchreise, oder an den Hafen. «Gelber Reis mit Fisch» steht angeschrieben, aber es sei dann ein Poulet-Curry mit Safran, sagt ein vehement gutgelaunter Koch mit braunen Rändchen zwischen den Zähnen, der hinter einer von Gemüse, Pasta und Frittes vollbestückten Durchreiche steht, während er die Ärmel hochkrempelt und dabei graue Tribal-Tattoos auf sehnigen Unterarmen freilegt. Er informiert eine Kundin. Sie, in vorhangartigem Blumenkleid und dem Tuch dennoch bei jeder Öffnung an Gliedern auffallend überschüssig, antwortet gelassen. «Immerhin weisses Fleisch, das ist schon recht so» und befrachtet ihren Teller, bis Reiskörner wie eine magere Kieslawine über den Rand rieseln. Ich selbst steh etwas auf Abstand, meiner Bestellung noch unsicher, als ein kleiner Mann das Zögern nutzt und sich vortut. «Ich nehme das Kalbsschnitzel mit Preiselbeeren», meldet er an. Auf seiner Stirnplatte spriessen kleine Schweissperlen und seine Fäuste halten das Plastiktablett, als stünde das Urteil des Urologen nach dem Kontrollgriff aus. Er bedankt sich leise, «merci vielmal», als ihm das goldpanierte Stück gereicht wird. Er ist glücklich. Dann dreht er sich um, selbstvergessen, er hat Knopfaugen, die in diesem Moment fast zu platzen scheinen. Und dann passiert, was nicht passieren sollte – im Französischen gibt es diesen Ausdruck: «C’est comme jouer au billard avec une corde», Billard spielen mit einem Seil. Seine Arme erschlaffen, unergründlich, als implodierte das Mutterschiff einer Roboterarmee kurz vor dem sicherstehenden Sieg im Feld, das Porzellan in hundert Teilen und das Schnitzel auf dem Boden der Tatsache, verloren im Dreck. Und der Preiselbeer-Schlee leuchtet violett in den Scherben. Der kleine Mann sagt nichts und alle um ihn herum starren, nach unten, die Blumenriesin, der Koch, ein Belegschaftsgrüppchen – im Begriff, ihre Mittagspause hier auszusitzen dazugeschlichen – und ich. Aber das Ich fühlt sich ganz weit weg an. Der Schmerz, ob dem verlorenen Schnitzel dieses Mannes, brennt alle wie ein Dolch. Kein Funken Schadenfreude auszumachen, bei niemandem, nur Betroffenheit und beschämtes Wegschauen. Dann: «Oje oje, aber das ist doch halb so schlimm, sowas, das kann uns allen und immer passieren!» – es ist eine ganz alte Stimme, die das sagt, aus dem Hinterhalt bei der Dessertvitrine. Eine Frau von Halbmondstatur und dünnen, roten Lippen. Kreuzaufwärts gebeugt, brüchig, gleichwohl robust, schimmernd, wie ein graues, geschminktes Gamberoni. Sie lacht, als sie das sagt, «… das kann uns allen und immer passieren.» Und das Brennen verfliegt, der Dolch wird zur Feder, im Nachzug ihres Satzes und streichelt unsere Wangen, da wir noch immer wie geohrfeigt rumstehen. Seligkeit, die sich einstellt und die Stille füllt, als die Frau ganz selbstverständlich durch die Scherben trippelt mit ihrem Kuchen in beiden Händen, als teile sie das Meer, Richtung Kasse geht und der Situation keinen weiteren Blick schuldig bleibt.