Bye SPEX! What’s next?

«Man lebt zweimal: das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung.» – Honoré de Balzac

«Bye SPEX – what’s next?» Das titelte das Magazin für Popkultur in seiner 384. und letzten gedruckten Ausgabe im Januar 2019. Ein gutes Jahr später stirbt es nun auch im Netz. Das Wegfallen von Papier war der Infarkt, jetzt wurde auch die Herzlungenmaschine vom Strom getrennt: Der gesamten übriggebliebenen Redaktion wurde gekündigt. Was das heisst, ist erstmal Trauer. Und dass Popschreibe eigentlich längst etwas anderes bedeutet – Prekariat.

Es geht um die Privatisierung von Stress: Hohes Arbeitsaufkommen, Zunahme der Unsicherheit, Gehaltskürzung – all diese Dinge machen depressiv, und wir müssen immer häufiger alleine mit ihnen fertig werden. Im Zeitalter der Kollektivität gab es noch Mediatoren wie Gewerkschaften, die dir dabei geholfen haben, aber heute wirst du zu keiner Gewerkschaft geschickt, sondern zu einem Therapeuten, oder nimm doch einfach Antidepressiva. Das ist die Geschichte der letzten 30 Jahre.

Das hat der glühende Poptheoretiker Mark Fisher, Verfasser der brillanten ästhetischen Zeitdiagnose «Capitalist Realism», zwar nicht zum Popjournalismus gesagt. Sondern konkret zur Depression als allgemein individuell begriffenes Phänomen, die er so zur politischen Kategorie schärft und sie damit wiederum strukturalisiert. Aber die Analogie liegt nahe, da in der notwendigerweise subjektiven Tradition der Popkritik – heisst das doch gerade, sich von der von aussen erwarteten und der Industrie zudienenden Rolle zu verabschieden – eine schopenhauersche Abgründigkeit immer mitschwingt. Unverwertbarkeit als Programm, ergo Prekariat.

Mark Fisher war auch persönlich von Depressionen befallen, daraus machte er nie einen Hehl. Anfang 2017 nahm er sich das Leben. Für diverse essayistische Longreads in der Spex war er immer wieder wichtige Referenz; er war Teil ihres theoretischen Kosmos.

Die Vorstellung von einem sanften, einfachen Tod ist Teil einer Mythologie über Krankheiten, die nicht erbärmlich, demütigend oder schmerzlich sind.

Das ist von Susan Sontag, der Frau, die 1977 mit ihren Aufsätzen «On Photography» ein weiteres Standardwerk der ästhetischen Kritik abfasste. Gedanken zur zunehmenden Nicht-Beteiligung in einer Gesellschaft, die sich von einer mitunter makabren Bilderflut überrollt sieht. Bilder rollen weiter, auch wenn sie nicht reflektiert werden können. Reflektieren können ist Kapital.

Das Privileg, dieses Kapital zu besitzen und die damit einhergehende Verantwortung wahrzunehmen – das ist auch eine treffende Definition von Beteiligung. Das war die Spex.

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Bevor ich das Meer jemals gesehen hatte, war ich schon da, mit der Roten Zora durch die Hecke und der Taschenlampe von unter dem Duvet aus. Schrammen von den Dornen und Salz auf der Haut, Alpträume von riesenhaften Thunfischen und am Morgen roch es in meinem Kinderzimmer nach Seetang und Zweitaktbenzin.

Bevor ich jemals in den Strassen von Queens stand oder überhaupt irgendwo einmal U-Bahn gefahren war, hatte ich den Dreck schon auf der Lunge. Er wirbelte auf von den Fotos aus dem Buch «Subway Art» von Martha Cooper und Henry Chaflant. Irgendwann stand man dann selber neben Stahlelefanten im Schotter, unter orangenem Schein von Gaslampen, roch den Teer von den Eisenbahnschwellen und träumte sich weg, dachte es wäre L.A. – obwohl es wohl Interlaken war. Bis heute bin ich nie in Queens gewesen.

Bevor ich schliesslich wusste, was es kostet, ein Verlierer zu sein, hatte ich mit J.D. Salinger immerhin den Roggen schon gefangen.

Unabhängige Popkritik stirbt auch hierzulande. Ende Monat wirft Negative White das Handtuch, Ende Jahr Rawk. Auch hier werden wir uns also fragen müssen: What’s next im abseitigen Musikjournalismus?