Café Luftschloss

Oder die Viertelstunde vor dem Aufprall. Eine Szene, die fällt – der Raum ein durchsichtiger, heller Quader. Ein stürzender Würfel, um ihn herum leeres Schwarz; in ihm drinnen sitzen vier Personen, Aktivist*innen, auf Bistrostühlen, an einem Tischchen aus Marmor. Weit hinten im Dunkeln zählt eine Uhr in roten Ziffern Sekunden rückwärts: 900, 899, 898 … Bis hierher läuft alles ganz gut. Aber wichtig ist in diesem Stück nicht der Fall, sondern die Landung, 15 Minuten bis zum Aufprall – ein Mikrodrama um Entscheidung und Zukunft.

Und der Quader könnte auch Bern treffen.

Felice (liest laut vor von einem Blatt Papier, das auf dem Tischchen liegt): «Der Ausweg im Gewirr einer unendlichen Fülle an Möglichkeiten ist nicht einfach der Beschluss. Der Aufschub der Katastrophe ist dadurch aber nicht ausgeschlossen. Bei allfälligem Gelingen wird auf der Uhr Zeit addiert.» Mehr steht hier nicht. Was tun? Um Nachhaltigkeit gehts wohl nicht mehr.

839, 838 …

Sophie: Ach, Nachhaltigkeit. Man siehts doch an der Zahnpasta: Auch wenn die ewig hält, geht es am Ende trotzdem immer darum, wer die nächste Tube kauft.

850, 851 …

Paul: Kaltschnäuzige Antworten scheinen jedenfalls zu helfen, wir haben gerade ein paar Sekunden gewonnen. Humor vielleicht?

817, 816, 815 …

Eduard (leise wiederholend): «Der Ausweg im Gewirr einer unendlichen Fülle an Möglichkeiten ist nicht einfach der Beschluss.»

Im Hintergrund flackern weit unterhalb der Uhr auf riesigen schwebenden Röhrenfernsehern Bilder von Diktatoren, stumm ihre Reden schwingend. Den vieren im Quader fällt das nicht auf, ihre Köpfe in die Hände gestützt – bis Sophie plötzlich vom Marmor aufblickt und erschrickt. Gerade tobt ein golemhafter Zwerg in braunem Zwirn und Schirmmütze auf dem Bildschirm.

Sophie: Also, kein Beschluss. Das heisst, kein bestimmtes Programm für die Zukunft, keine Verkürzung. Diktat hat schliesslich schon in der Schule keinen Spass gemacht, ich fühlte mich da immer um meine Liebe zur Sprache geprellt.

850, 851 …

Eduard:  Sophie, du bist gut, der Countdown ist wieder angestiegen. Vielleicht sollten wir mehr über unsere Gefühle reden.

Paul (panisch): Der Zähler ist abgestürzt!

400 …

Felice (formt ihre Hände zum Trichter und schreit die durchsichtige Decke des Quaders an): Beim Goldenen Schnitt verhält sich das kleinere Teilstück a) einer Strecke, zum grösseren Teilstück b) einer Strecke, wie das  Teilstück b) der Strecke, zu a) und b) addiert. Oder formelhaft ausgedrückt: a:b = b : (a+b). Dieses Verhältnis ist ein Urgrund unseres Schönheitsempfindens. Aber nur, weil das stimmt, heisst das nicht, dass nicht auch andere Dinge stimmen können.

629, 628, 627 …

Sophie (mantrisch): Einschnaufen und ausschnaufen – kollabieren, expandieren – Materie und Licht. Gleichgewicht bedeutet Stillstand.

627, 627, 627 …

Auf der kosmischen Leinwand gerät der Film der Despoten ins Stocken, Endlosschleife – ein Tyrann fällt da gerade in seinen letzten Strick und hüpft jetzt auf und ab, mit einem schwarzen Sack über dem Kopf. Dann kommt das Bild zum Stehen, als er gerade im Fallen begriffen ist, aber noch nicht hängt. Totlebendig. Federleicht. Aber Stillstand.

627, 627, 627 … bis hierher läuft alles ganz gut.

Eduard (gelöst): Vielleicht so: Ausgeglichenheit. Werden wir Teil des Grossen und Ganzen, schrauben wir unsere eigenen und die kollektiven Ansprüche runter, verzichten wir auf unseren Trieb. Entschliessen wir uns zur absoluten Meditationsspezies, dann werden wir alles aushalten können.

Im Raum ertönt ein schrilles, getaktetes Pfeifen, schnell abflachend, dafür in immer länger gedehnten Sequenzen.

500, 400, 299 Sekunden noch bis zum Aufprall.

Felice, Sophie und Paul: «DER AUSWEG IM GEWIRR … IST… NICHT EINFACH DER BESCHLUSS!»

Sophie (angestrengt, als das Pfeifen abklingt): Keine Kurzschlüsse mehr jetzt, keine Einzelgänge. Die Lösung kann uns gar nicht einfach so einfallen, sonst wäre sie Teil des Problems. Man kann problemlos meditieren und ein Nazi sein – reine Akrobatik des Nichtdenkens. Die Lösung muss im Unterschied stehen. Unser Café muss vom Luftschloss zum Haufen werden, aus Pflastersteinen vielleicht. Und dann tanzen wir drauf, statt sie zu schmeissen. Vielleicht gewinnen wir eine Sekunde mit dem Brechen von Vorurteilen.

300, 299, 298 …

Das sind noch fünf Minuten. Eine Sekunde lang ist es ausserhalb des Quaders greller als drinnen. Das Licht einer Kernfusion. Im Moment später sieht man die schwebenden Bildschirme sich verformen, im Nichts, als würden sie geschmolzen, zu leuchtenden Tropfen, dann zu grellen Strichen, die ein zittriges Koordinatensystem bilden – das brennende Netz einer galaktischen Spinne.

Paul: «I can no longer think what I want to think. My thoughts have been replaced by moving images.» Georges Duhamel, lange habe ich daran gegrübelt. Entscheidung könnte auch als bewegtes Bild gedacht werden, als Absage an ein bestimmtes Ziel. Maulwurf- statt Habichtperspektive: Wer oder was wird durch eine Entscheidung ausgeschlossen, vernachlässigt oder sogar zerstört? Und lieber aktiv beschliessen statt entscheiden. Dieses verlockende «Taten statt Worte», entscheiden, damit man entschieden hat, es hat schon die schlausten Köpfe in den Totalitarismus geschickt. Weil man die Unstimmigkeiten nicht mehr aushält. Was ist mit den Stimmen, die gar nicht an der Entscheidung beteiligt sind?

298, 299, 300 … bis hierher läuft alles ganz gut.

Felice: Es muss schliesslich um uns gehen. Aber alles Scheitern wird verkehrt. Als Chance, als Erfahrungswert der Fehlbarkeit, als Beweis der Menschlichkeit. Keine Frustration mehr ist toleriert, die Desillusionierung ein Anti-Statussymbol, wer enttäuscht ist, hat es nicht geschafft. Der Imperativ der Guten Hoffnung als Heroin fürs Volk – die Horrorshow der positiven Psychologie, der Terror des Herzens.

Der Quader schiesst gerade durch das Netz, verlässt das Dunkel und betritt mit einem Ruck die Atmosphäre. Der Marmortisch zerspringt und das Holz der Wienerstühle bricht aus seinem funktionalen Zwang, um sich am Boden zur Form eines Violinschlüssels in Format A0 zu ordnen. Die vier sitzen am Boden und sehen den Erdball immer grösser werden.

199, 198, 197 …

Sophie (vor Furcht mit brüchiger Stimme): Hör auf, Felice, predigen bringt nichts. In der Kirche sitzen immer nur Bekehrte, der wärmste Orgelklang ist für die bestimmt, die schon im Schiff sitzen. Krieg den Kathedralen, Friede den Küchen.

164, 163, 162 …

Mittlerweile ist unter dem Café Luftschloss Europa deutlich zu erkennen, am Horizont – der von oben herab nichts weiter ist, als der Rand der Kugel – verschwindet gerade ein steroidgepumpter Stier, rittlings auf ihm ein junger Mensch; in der einen Hand hält er einen Käfig vollgestopft mit weissen Tauben, in der anderen eine Fahne mit ausgestanzten Sternen.

Eduard (mit dem Gesicht an die Scheibe gepresst): Was haben wir nur aus diesem Flecken gemacht. Schaut euch den Atlas im Süden von Marokko an, wie schön der ist. Und die Ägäis rechts, Griechenland! Es tut mir leid Leute, ich fühle mich so schuldig, auch wenn nur noch zwei Minuten bleiben. Wer reicht mir die Hände?

99, 98, 97 …

Felice (wütend): Als wüsstest du, was alles noch kommt! Ins Reine kommen wir sowieso nicht. Unser Dasein ist dreckig, ungerecht und zufällig – seht alle gefälligst runter, seht ihr die Strassen? Verstopfte graue Adern, zugegeben, aber sie pumpen. Wir wollen rauchen, Feuerlöscher können auch Farbe spucken. Potential überall, im Unvorhergesehenen liegt die Geschichte. Arrogant geschnürte Krawatten können Revolten auslösen, Gesten können Ketten sprengen. Ich will ein Fest feiern, jetzt, wenn ich diese Strassen sehe. Mit Menschen, die auf später brennen, die Lust haben an der ganzen Scheisse. Ich glaube nicht an die Apokalypse.

3, 2, 1 … Die Szene löst sich im Gegenlicht von Feuer (oder wahlweise Flutscheinwerfern) auf.

Technischer Nachtrag für das Publikum zur Konzeption der Zahl Null: Der Astrophysiker Prof. Dr. A.W.A Pauldrach weiss dazu, dass in der Quantenphysik die Null – anders als in der klassischen, deterministischen Physik – nicht vorgesehen ist: «Die Differenz zwischen dem was ich mir vorstelle und zwischen dem was ist, ist nie Null.»