«Dann bewegt sich vielleicht auch die Gesellschaft»

Von Lockdown zu Lockdown und einem Leben zwischen Kunst, Engagement und Lohnarbeit: Die Künstlerin Mirjam Ayla Zürcher, als Gastbeitrag porträtiert von David Fürst.

15.10. 18:30, Luzern, Kunsthalle

«Bist du je für deine persönlichen Rechte auf die Strasse gegangen? Bist du je für Rechte von anderen auf die Strasse gegangen? Wird deine Anwesenheit als normal und selbstverständlich betrachtet?»

Mirjam Ayla Zürcher und Jeanne Jacob erinnern das Publikum an die reflexiven Leerstellen der eigenen Persönlichkeit, der eigenen Prägung: Es geht um Privilegien. Im Rahmen der Gruppenausstellung «L21 – The Dark Side of the Lion» stellen Jeanne und Mirjam Ayla ihre Arbeit «J’ai des priviléges, donc je peux» aus, in der sie sich mit dem Löwendenkmal in Luzern auseinandersetzen: Wer wird durch Denkmäler repräsentiert? Welche Machtstrukturen gehen von Denkmälern aus? Im Kabinett, einem dunklen Raum mit tiefen Decken, zeigen sie nebst den Fragen auch die drei LED-Lauftext-Panels, wo das «Ongoing Manifesto» in roten Buchstaben vorbeitanzt:

«Dies ist ein Manifest. Ein Manifest der Verbündetenschaft. Ich will gute Verbündete haben. Und eine gute Verbündete sein. Ich will für dich einstehen. Ich will dir Raum lassen. Ich will dir zuhören.»

26.10. 14:00, Bern, Altes Loeblager, Weyermanshaus

Bei der Treppe des Betonbaus treffe ich Mirjam, die auf ihrem Velo andüst. Sie trägt eine Mütze, eine runde Brille, die Haare kurz und dicht. Wir steigen die Stufen hinauf, die Sonne blendet durch die Glaskacheln der Treppenhausfront. Mirjam zeigt mir das Atelier, das sie mit drei Künstlerinnen teilt. Ihr Arbeitsplatz wirkt noch etwas karg; ein Macbook, ein altes «Du» aus dem Jahr 1962, eine Schere, Leim und Samosas sind auf dem Tisch verteilt, einige Bücher und eine Schreibmaschine im Regal verstaut.

Mirjam arbeitet multimedial, aber der Text ist ihre liebste Ausdrucksform. «Herzkäfer» (2020) hat sie auf Radio RaBe gelesen, der Text beschäftigt sich mit der Anerkennung von Depressionen anhand des Innenlebens eines traurigen Käfers.

«Da hab ich geweint über das Schöne und Wundervolle und wie alles vergeht. Und über das Hässliche und Grässliche und alles wurde so schwer. Und ich weiss, wenn alles so schwer ist, kann alles nur leichter werden, doch das, das ist unvorstellbar.»

Nicht nur ein schöner Text, sondern auch ein Versuch, psychische Krankheiten in Gespräche zurückzutragen. Inspiration schöpft Mirjam im Zusammensein mit Menschen wie Zora, ihrer besten Freundin: «Diese Begegnungen bringen etwas ins Rollen und sind Antrieb für mein Schreiben.» Überhaupt ist Mirjams Kunst sehr persönlich. «Und doch versuche ich, von eigenen Erfahrungen aufs Grosse zu gehen. Die Erfahrungen, die ich mache, haben strukturelle Gründe. Meine gesellschaftliche Position als Cis-Frau kann ich nicht ablegen. Diskriminierungserfahrungen und Privilegien prägen meine Kunst.»

Zum Beispiel im Frauenraum, wo sich Mirjam kollektiv engagiert. «An einem Abend hat sich ein Cis-Typ scheisse verhalten und wir haben ihn gebeten, den Raum zu verlassen. Die Begegnung war mühsam und die Diskussion zog sich in die Länge. Erst als ein anderer Gast – auch ein Cis-Mann – sich einmischte und den Uneinsichtigen in einer kumpelhaften Manier davon überzeugte, ging er.» Solche Erfahrungen machen Mirjam hässig. Viele im Kollektiv könnten von ähnlichen Geschichten berichten. Keine Einzelfälle, vorgezeichnet durch Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Sie passieren nicht zufällig und sie passieren auch an Orten, die als Schutzraum gedacht sind.

Also stellt Mirjam Fragen, wo sie die genaue Antwort selbst nicht kennt. «Einfach Lösungen anzubieten, fände ich grosskotzig. Dass die Kunst zu Diskussionen führt, dass es Austausch gibt zwischen Menschen, die ähnliche Sachen erlebt haben – das fände ich schön. Und wenn man in der Kunst was bewegt, bewegt sich vielleicht auch die Gesellschaft.»

Mirjam arbeitet zurzeit zu toxischen Beziehungen. Auch hier inspiriert von eigenen Erfahrungen und jenen von Freundinnen. Schreiben aus Betroffenheit ist ein Ansporn: Erfahrungen zu teilen, um zu zeigen, dass Menschen nicht alleine sind mit ihren Problemen, dass es sich um strukturelle Phänomene handelt. Das Private hat immer auch mit dem Öffentlichen zu tun, ist Politik – eine alte Einsicht, aber sie bleibt wichtig. So sind auch Beziehungsmuster nicht ausserhalb dieser Strukturen zu denken: Wenn etwa Frauen mehr emotionale Arbeit leisten und Cis-Männer von sich sagen, nicht über ihre Gefühle sprechen zu können, hat das Gründe.

Dass sie Kunst machen könne, sagt Miri, habe ebenso strukturelle Gründe. «Einfach Kunst zu machen oder Kunst zu studieren, empfinde ich als ein krasses Privileg. Auch wenn die Bedingungen manchmal ziemlich prekär sind.» Ihre Eltern haben sie während des Studiums finanziell unterstützt. Der Vater, ein liberaler Pfarrer, hat einmal nachgefragt, was sie dann sei, nach dem Studium. Aber die Eltern hätten sie nie daran gehindert, diesen Weg einzuschlagen.

Und wenn die Pflaster den eigenen Hautton haben, wenn in Magazinen die Prominenten und Models weiss und in der Kunstklasse alle aus demselben Milieu sind, fallen deine Privilegien einfach nicht auf. «Die Welt ist so sehr nach dir ausgerichtet, dass du die Bevorteilung gar nicht bemerkst.»

Seit dem Studium finanziert sich Mirjam selbst. Und obwohl das Leben unter dem Existenzminimum in gewisser Weise selbstbestimmt ist, wäre es schön, wenn sie von ihrer Kunst leben könne. Aber dazu brauche es Strategie und viel Smalltalk, «das gehört nicht gerade zu meinen Stärken.» Also arbeitet sie für Geld in einem Restaurant. Vielleicht stört sie sich auch deshalb an den dürftigen Künstler*innen-Gagen, wie sie etwa in basisdemokratischen Kulturkollektiven wie dem Frauenraum zur Normalität gehören. «Wir arbeiten nicht nach gewinnorientierten Grundsätzen. Es beuten sich sozusagen alle selbst und gegenseitig aus.»

Ich frage Miri, wie es ihr mit dem Umstand geht, dass gerade in der Reitschule oft ein Graben zwischen den dezidiert politisch Engagierten und den Kulturschaffenden besteht. «Ich nerve mich über den Vorwurf, dass wir in der Kultur nicht politisch seien. Das ist ein eindimensionales Verständnis von Politik. Widerstand kann verschiedene Formen haben: den Kunstbetrieb verändern, sich die Strasse nehmen, vielfältiger veranstalten.» Konkret heisse das zum Beispiel, dass nicht fast nur Cis-Männer Auftrittsmöglichkeiten erhalten, dass auch Trans-Personen rappen, dass mehr People of Colour veranstalten. «Und es ärgert mich, wenn Kulturprogramme einseitig sind und Veranstaltende nicht auf Quoten achten, obwohl sie in einem mir politisch nahen Ort veranstalten.»

26.10.2020, 15:30, Freibad Weyermannshaus

Mirjam muss Tabak kaufen, wir spazieren zur Tankstelle. Danach laufen wir ins Freibad Weyermannshaus, das leere Bassin erinnert irgendwie an die Salzwüste in Bolivien. Miri springt auf der weissen Fläche und macht einen langen Schatten. Wir setzen uns auf die Badeinsel in der Mitte des Beckens. Miri faltet ihre Hände zu einer Räuberinnenleiter und hievt mich auf die Insel, steigt ohne Hilfe nach.

Im Lockdown sind grosse Teile der Arbeiten «J’ai des priviléges, donc je peux» und «Writing & making collages – in distance» entstanden. Kurz davor stellten Jeanne und Mirjam ihre Zusammenarbeit auf online um. Täglich telefonierten sie und besprachen die Arbeiten, lasen sich Texte vor und diskutierten. «Ich schätze Jeannes Direktheit», sagt Miri, «so ist es für mich möglich, auch direkt zu sein. Zusammen ist man schlauer. Ich arbeite gerne in Kollektiven, man lernt viel über sich und die Gruppe.»

Während der Isoliertheit im März und April wurde Mirjams Dreieck aus Lohnarbeit, Aktivismus und Kunst kleiner, das Leben langsamer. Das Restaurant war geschlossen, der Frauenraum nicht sehr belebt – so blieb mehr Zeit für die Kunst und das Zusammensein in der 10er-WG, in der sie damals gewohnt hat. Und jetzt, im Kulturlockdown? «Es ist ein Riesenanschiss. Ich habe noch eine Lesung, die ziemlich sicher abgesagt wird oder nur online stattfindet. Bei Lesungen können digitale Lösungn manchmal funktionieren, aber das meiste funktioniert eigentlich nicht. Es ist zynisch zu sagen: ‹Ihr müsst kreativ sein.› Aber es bleibt mein grosses Privileg, Künstlerin zu sein, meine Gefühle zu veräussern – und den Anschiss zu Kunst zu machen.»

Die Ausstellung «The dark side of the lion» ist in der Kunsthalle Luzern noch bis 13. Dezember zu sehen. Diesen Sonntag, 29. November, findet ein Künstlerinnengespräch mit Mirjam Ayla Zürcher, Jeanne Jacob und Lexy Ottwald statt.