Das ewige Beethoven-Jahr

Und er mag immer noch: Beethoven bleibt uns auch 2021 erhalten. Moritz Achermann hat sich an einer schwierigen Liebe abgearbeitet.

2020 hätte Ludwig van Beethoven seinen 250. Geburtstag gefeiert. Die Klassikwelt stand schon in den Startlöchern, dieses Jubiläum nach allen Kräften auszuschlachten, doch es kam bekanntermassen alles etwas anders. Nun geht das Beethovenjahr in Verlängerung und wird das Klassikbusiness wohl noch ebenso lang beschäftigen, wie uns die Coronapandemie begleiten wird. Irgendwie passen die Widrigkeiten unserer Zeit ja auch ganz gut zum Mythos Beethoven – dem pockennarbigen, ertaubten Tondichter; dem unverstandenen Genie, das gegen alle Widerstände seine musikalische Vision verwirklicht. So muss sich also der arme Beethoven erneut gegen das Wüten der Welt auflehnen.

Es liesse sich dabei diskutieren, ob ein solcher Jubiläumsreigen im Falle eines Komponisten, der unser Repertoire und unseren Konzertbetrieb derart dominiert, überhaupt sinnfällig ist. Denn Beethoven ist nicht nur irgendein bedeutender Musiker im Kanon der europäischen Musikgeschichte, er ist vielmehr dessen Epizentrum. Die britisch-US-amerikanische Musikwissenschaftlerin Lydia Goehr prägte 1994 in ihrem Essay «The Imaginary Museum of Musical Works» für diesen Komplex den Begriff des Beethoven-Paradigmas und legte überzeugend dar, wie selbst die bis heute gelehrte Musiktheorie am Beispiel Beethoven’scher Werke entwickelt wurde: Sie funktioniert umso weniger, je weiter wir uns historisch und geographisch von Beethoven entfernen.

Im Grunde ist der Mythos Beethoven in sich höchst problematisch. Mit ihm hielt der (zutiefst männlich kodierte) Geniekult endgültig Einzug in die europäische Musikgeschichte – woran Beethoven mit seinen Selbstmythisierungsstrategien fleissig mitarbeitete. Kunst wurde Ausdruck von Biographik, der Künstler zum Heroen. Beethovens künstlerisches Wirken wurde fortan in eine Sprache gegossen, die von Kampf, Überwindung und Überwältigung handelt. Sah E.T.A. Hoffmann in Beethovens Sinfonien noch das «Erhabene», glaubte Richard Wagner «eine gewaltsame Nötigung zur Entladung nach aussen» zu hören. Von hier lässt sich rezeptionsgeschichtlich eine Linie über Gustav Klimts verschrobenen Beethoven-Fries bis hin zu Stanley Kubricks «Clockwork Orange» ziehen, der das Chorfinale der 9. Sinfonie folgerichtig zum Soundtrack der orgiastischen Gewaltausbrüche macht. Gerade die pathetische Wirkungsmacht jener «Ode an die Freude» wurde seither von politischen Kräften aller Couleur in Anspruch genommen – von den Republikanern im Dresdener Maiaufstand, über nationalsozialistische Grossanlässe bis hin zur Europäischen Union.

Diese toxischen Männlichkeitsdiskurse in der Beethoven’schen Sinfonik hat Susan McClary 1991 im Aufsatz «Feminine endings» brillant nachgezeichnet. Pointiert arbeitet McClary heraus, wie die ejakulativ zum Höhepunkt drängenden Finalsätze patriarchale Machtstrukturen und Topoi sexualisierter Gewalt abbilden, eben eine «eine gewaltsame Nötigung zur Entladung nach aussen». Hier wird Beethoven vom revolutionären Genie zum wütenden Incel.

Und trotzdem liebe ich Beethoven über alles. Und ich habe im letzten Jahr Momente erleben dürfen, die mich seiner Musik so nah wie noch nie gebracht haben. Im September 2020 hatte ich mit dem Kammerchor Seftigen und dem Opus Orchester Bern unter der Leitung von Patrick Secchiari einen kurzen Auftritt als Tenorsolist in Beethovens «Chorfantasie», einem Werk, das ich in seiner megalomanischen Anlage – für die letzten Takte werden sechs Vokalsolist*innen und ein Chor gefordert – bis anhin ziemlich albern fand. Ich stand also auf der Bühne des Kulturcasinos und sang meine Zeilen – «nehmt denn hin, ihr schönen Seelen, froh die Gaben schöner Kunst». Und dann begann hinter mir diese riesige Klangmaschine anzurollen, all diese Menschen, die nach so langer Zeit wieder zusammenkommen und musizieren – da hat mich Beethovens Pathos, dieser ebenso naive wie zwingende Wille zur Kunst, voll erwischt. Plötzlich war sie da, diese innerliche Erschütterung, die schon E.T.A Hoffmann beim Hören dieser Musik ergriffen hatte.

Da war aber auch im November die Aufführung der 6. Sinfonie in Kammerbesetzung durch das Ensemble «Passions de l’Ame» in der Französischen Kirche Bern – coronabedingt vor nur fünfzehn Zuhörer*innen, die so wunderbar die Feinheiten dieser kompositorisch überragenden Naturschilderung hörbar machte. Und da ist nicht zuletzt der poetisch-innige Liedzyklus «An die ferne Geliebte», der mich seit Längerem begleitet und in diesem Jahr noch einmal eine andere Tiefendimension erhielt. Womöglich war die Unmöglichkeit eines Beethovenjahres in Pomp und Glorie genau richtig, um Beethovens Werk in einem anderen Licht neu zu entdecken. Weg vom heroischen, hin zum menschlichen. Denn der flehentliche Wunsch nach Tröstung durch die Wunder der Kunst berührt uns vielleicht irgendwo doch bis heute.