Das Gölä-Gleichnis

Fast Feierabend an diesem Freitag irgendwann im März, der Himmel ist orange und ich sitze im Lastwagen am Breitschplatz fest. Grossbaustelle und Arbeitswoche-Exodus, Verkehrskollaps, Kinderwagen-Pendler-Schachmatt – daneben die Bürolist:innen und Kreativen mit rosa Bäckchen an Restauranttischen. Schon im Bier. Und auf der Kreuzung steht ein Mann mit roter Haut und verspiegelter Sonnenbrille, verzieht keine Miene in seiner Leuchtjacke, dirigiert diesen Marsch der Dinge – eine stockende Kolonne von Mensch und Maschine. Ich mach das Radio lauter: (Rockmusik) «Es git so Lüt, die tschegges eifach nie, aber i gloube die si o nid vo hie, wiu so wie mir hie läbe u so wie mir hie tüe, zwüsche Chiuche, Mischtstock, Bärge u Chüe. Nei I gloube das isch nid jedem gä, üse Lifestyle dä cha nid jede näh, mir gö früeh ga wärche u spät ids Näscht und am Wuchänändi ja da gisch dr no dr Räscht …» Scheisse: das ist Gölä. Zusammen mit dem Trauffer, «Büetzer Buebe», das Radiodisplay zeigt mir den Titel vom Stück: «E Chischte Bier, e Grill u es Füür». Das läuft ganz legal auf SRF3, danach direkt die Nachrichten: Krankheit, Krieg, Klima – ein stringenter Sender, immerhin. Und ich wünsch mich plötzlich in die Baustellenlöcher am Breitschplatz. Weg von allem, hundert Meter unter Tage und bei den Schatten bleiben – der Führerstand des Lastwagens als Höhle. Bei Platon hatten die Schatten eine klare Bedeutung, die sinnlich wahrnehmbare Welt als bloss vermitteltes Abbild an die Höhlenwand geschlagen. In der Gruft des alten Gleichnisses ist alle Empirie bloss Wissen zweiten Grades (und nicht etwa nur ideologisch verblendetes oder sogar strukturell entfremdetes Dasein). Primär hingegen ist das Prinzip, die Sonne ausserhalb der Höhle – und hinter dieses übergeordnete Licht gilt es, über das Denken zu kommen. Das ist der Auftakt zur Ideenlehre, zur metaphysischen Spekulation – wenn man so will: es geht um die ständige Suche, das Vorwärtskommen und bleibt doch ein Rätsel auf ewig. Denn schon Platon ahnte es: Die Sonne, der Mittelpunkt – das schliesst jeden Hinterraum aus. Ganz sicher um die Richtigkeit einer Idee wird man sich – entgegen dessen, dass sie Bestand haben muss – niemals sein können. Hinter das Licht ist nicht zu gelangen. Und so kommt auch der Glaube in die Welt. (Der Aufkfklärer Nietzsche nannte denn das Christentum nicht sehr wohlwollend auch «Platonismus fürs Volk»).

Zuhause angekommen geb ich mir das nochmal, mit Video: Gölä und Trauffer stehen in einer Kiesgrube und rocken, es dunkelt gerade ein, Flammenwerfer beleuchten ein Grüppchen tanzender Menschen, Frauen, Männer, eine einzelne nichtweisse Person auf einer kleinen Bühne im Hintergrund – daneben Product-Placement von Auto- und Biermarken. Baustellenplanken mit dem Schriftzug einer nationalen Spedition suggerieren Bodenständigkeit und die zwei singenden Chauvis schwängern die Leere alljener, die sich ausgeschlossen fühlen, von allem auch nur ansatzweise Urbanen. Das Prinzip bei den Büetzer Buebe wird offenbar, der Unter- und nicht akademischen Mittelklasse (Reckwitz) singen hier zwei das neoliberale Blau vom Himmel, mythologisieren das Bestehende mittels greifbarer Signifikanten (vielleicht nicht zufällig auch: Misthaufen) und lassen gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass hier alles mit rechten Dingen zu und her geht. «Das Selbstbewusstsein von Kollektiven beruht darauf, dass man eigene Schwächen nicht nach aussen betont, sofern man sie überhaupt zu erkennen vermag.» (Maissen) Das Prinzip Büetzer Buebe sahnt in einem Millieu ab, welches der Kultursphäre, unserer Bubble, grundsätzlich immer skeptischer gegenübersteht, weil es sich im Unverständnis um die vorherrschenden ästhetischen Werte degradiert sieht und nicht ernst genommen fühlt. Hier stiften Göla und Traufer Identität. Sie können aus der vollen Banalität schöpfen, dem künstlerischen Dünkel und progressiven Gewäsch irgendwelcher fragiler Profiteur:innen, die dem Ernst des Lebens in den Städten entkommen, trotzen, den «Weichschnäbeler u Gränniwyyber», wie sie vielleicht sagten. Und werden gleichzeitig reich davon.

Wir können dieses eher scheussliche Symptom der herrschenden Verhältnisse dazu nützen, Verantwortung wahrzunehmen. Die eigene Schwäche als Bedingung, ans Licht mindestens kleiner Sonnen kommen zu wollen, weil blinde Flecken sichtbar gemacht werden müssen, bevor man sie angehen kann. Alles Menschgemachte, das Gesungene, ist reversibel, sonst hätte es nicht gemacht, also verbrochen werden können. Auf der Suche nach einer kollektiven Identität als gemeinsames Bedürfnis – dann doch im Zweifel für den Zweifel. (Trotz allem Tocotronic)

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Maiausgabe des KSB Kulturmagazins.