Das Gerücht kreiste seit Wochen über dem Quartier. Wahrscheinlich seit Jahren, Dekaden, in wiedergängiger Form, doch das konnte ihn nicht kümmern: Er konnte erst bis Hundert zählen. Das Quartier am Wald war aufgebracht. Die Mütter hatten vor lauter Sorge beim Zusammenlegen der Wäsche auch ihre Gesichter alt gefaltet und die Väter blieben still, um ihre Ratlosigkeit zu vergolden.
Er kann sich genau erinnern: Der Nachmittag starb wie hinter Milchglas in den frühen Abend und ihm war kalt im Faserpelz. Entschlossen, auch heute nur mit einer Ausrede umzukehren, ohne Entdeckung, bog er beim Ententeich auf den Weg, der ihn aus dem Wald hinausführen würde. Da flatterte der Mantel hinter einer Buche hervor, ein langer Schatten schob sich aus der Flucht des Baumstamms. Der Mann im Herrenmantel. Über der geröteten, spärlich behaarten Brust wackelte ein Kopf mit lustigen Lippen und einem Augenleuchten. Der fremde Vogel hob seine Flügel. Der Bub rannte ab, er war ohne Angst und sprang froh durch den Mischwald von Weg zu Weg, das Glucksen des Vogelmenschen verschwand bereits zwischen den Bäumen, weit hinter ihm, später verschluckte es die Erinnerung ganz. Er rannte weiter von seiner Entdeckung beseelt bis hin zur Strasse, erregt und verschüttelt erreichte er schliesslich Asphalt. Der harte Boden wollte seine Tritte abstossen, liess ihn straucheln, im Fallen durchzuckte ihn ein unbekanntes Glück. Die Schürfung am Knie illustrierte seine Ausrede vor dem strengen Muttergesicht ganz ausreichend und vernarbte rasch. Er sagte sich seither: Ich bin ein Specht.
Diese Geschichte ist ihm heute fremd, obwohl er sie sorgfältig für sich behalten hat. Die kindliche Prahlerei mit seiner Entdeckung hätte ihn nur um das Geheimnis gebracht. Er hat es dann fast vergessen, wie einem wertvolle Dinge aus der Erinnerung gleiten, sobald sie erst ihren Platz in einer Kartonkiste gefunden haben und verstauben dürfen.
Das blieb so bis kürzlich im März, ein seltsamer März zum zweiten Jahrzehnt im dritten Jahrtausend, da der Wald vor lauter Leuten kaum noch ein Wald ist. Der Mann im Herrenmantel ist lange verschwunden, vielleicht davongeflogen oder in den Waldboden gefahren. Und der Specht hat eben lange nicht mehr an ihn gedacht, so unwichtig ist ihm die Sache nicht im Allgemeinen, aber doch unverwandt im Speziellen: Der Specht würde seine Flügel nie schlagen wollen vor den anderen, nie sich einsortieren in den Waldrandmythos des wiedergängigen Vogelmenschen. Er hütet dieses Geheimnis nur, sein eigenes ist es nicht.
Und der Wald ist kaum noch Wald. Mit jedem arbeitslosen Tag befallen ihn die Menschen mehr, es wäre schnell passiert, darin eine Krankheit zu erkennen. Da ist der Specht nur freundlich mit ihnen, wenn er sich die Menschen zu Tieren umdichtet, so wie er sich selbst als eines zu verstehen begann, damit der Wald sein Wald bleiben konnte damals an jenem milchverglasten Nachmittag. Und heute im scharfen Frühjahrslicht sein Wald noch ist.
Sein eigener Wald, sein eigenes Geheimnis. Gewöhnlich verschwindet er schon frühmorgens in den Bäumen, in seine Position. Er ist unsichtbar und leer. Er denkt über nichts und wartet.
Ein Reh in Laufschuhen galoppiert ihm vor den Blick. Ein verzückendes Muskelspiel, das sich seinen gekniffenen Augen vorführt und die violett bestrumpften Läufe des Schlüpfertiers anmutig zeichnet. Das scheinbar Unbeobachtete anzusehen macht ihn freudig, er beobachtet sehr genau und sehr genüsslich, atmet alles ein, Harzluft und Schweiss, bevor er mit dem Schnabel gegen das Holz seines Baums schlägt, zehn Sekunden lang in hundert Schlägen.
Zehn Sekunden Weltfrieden.
Hundert Schläge Einsamkeit.
Das Hirn schwingt elliptisch.
So beobachtet er den Wald und seine Tiere und hobelt das Holz vom Baum, wenn die Lust ihn durchzuckt. Sein Leben hinter dem Baum nimmt ihn so vollständig in Anspruch, dass er sich vom Lebtag auf der anderen Seite der Strasse, die den Wald mit scharfer Kante Industrie und bald jenes Wohnquartier seiner andauernden Kindheit werden lässt, vollständig zurückgezogen hat. Er hat sich von den Umständen jenen Lebens verabschiedet, vom spirituellen Durst und von dem fleischlichem Hunger, die den Menschen zu Sehnsüchten, Sinn und Streit verhelfen. Dass er dabei recht dürr geworden ist, kommt seinem Versteckspiel in der Flucht von Bäumen ganz entgegen.
Was dem Specht jetzt alles begegnet: Blondierte Retriever, wie sie sich gegenseitig die Telefone lecken. In Batik gehüllte Rebhühner, die Gebete halten. Es ist ein ziviles Durcheinander. Hornissen haben es pressant auf Carbonrädern, Hasenpaare kapitulieren vor der Liebe und rammeln sich im Schatten müd. Ameisen pissen auf den veganen Lyoner der Fruchtfliegen und Nachteulen fahren sich tagsüber Acidtrips rein. All das beobachtet der Specht und bleibt dabei still, sieht das Fuchsrudel Verstecken spielen, später Räuber und Polizei mit angeleinten Haushunden und schliesslich kiffen unter sich. Beobachtet die Edelhirsche mit frisierten Geweihen, wie sie rennen auf der Finnenbahn und sich am Vitaparcours aufhängen. Beobachtet den Dachs mit Haarausfall, der nie jemanden grüsst und nur leise monologisiert. Dazwischen sieht der Specht hundert frühlingsfrohe Rehe hüpfen im Rhythmus seiner Trommelwirbel.
So viele Sprünge, dass die Freude kaum zum Aushalten war. Aber der Wald ist dem Specht ungeheuer geworden seit diesem seltsamen März. Mit jedem Tag vermehrte sich die Tierwelt in die schiere Unübersichtlichkeit, strömte um die Bäume, bunt und blöd, riskierte, sich in fremde Angelegenheiten zu verlaufen. Das Alleinsein ist kompliziert geworden. Und der Specht fühlte sich im Zoo als einziges Tier im Käfig gefangen und musste hoffen, dass er der einzige war, der sich bemerkte. Wie er bis heute der einzige blieb, der den Vogelmann je sein Gefieder lüften sah.
Er musste fürchten, man würde ihn nicht bloss entblössen, sondern bös verkennen. Mit dem Vogelmann konnte er sich nicht verwechseln lassen. Er sagte zu sich in der desperaten Vorbereitung seiner Verteidigung: Der Specht ist kein Vogel! Ich bin kein Vogel, ich bin ein Specht! Sein Geheimnis ist nur mein Geheimnis, aber mein Gehmeimnis ist mein Leben!
Wer würde das verstehen?
Bei der Kiste, unter Staub und Herd, wo der Raubvogel auf dem Federbett seiner Geschichte lag, verschwiegen und versorgt, beinahe vergessen und all die Jahre, da bettete sich der Specht. An der selben Stelle nicht weit vom Ententeich legte er sich eng ans Grab des Vogelmanns und wartete. Er sah nur Baumspitzen und ein hellblaues Frottiertuch von Himmel.
Soll der Wald ihn fressen.