Das Passagen-Dings

Mit Tinte und Bleistift — über Eisen und Glas, die Niedertracht von Milchglas, drinnen oder draussen, das Verschwinden, das Streunen, das Träumen und das Aufwachen, Walter Benjamin. Die Zahnlücke der Spitalgasse und Spiegelungen vom Hauptbahnhof wie Pfützen. Die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts und Bern, wie es sich die Moderne einverleibte.

Ähnlich den roten Handläufen, die in den Fluss eintauchen und einen Arm reichen zum Ausstieg, so weiss auch von den Berner Passagen niemand ganz genau, wo sie sich befinden. Wir wissen eher körperlich, dass sie existieren. Und dass sie sich auffinden lassen. Ein abstruser Gedanke ist es demnach, sich zum Beispiel an der Zeughauspassage verabreden zu wollen, es wäre wahrscheinlich unmöglich. Wir nutzen das Angebot der Berner Einkaufspassagen eher tastend, meistens unverbindlich. Indem wir im Strom der Gassen treiben und immer beiläufig nach ihnen ausschauen, im richtigen Moment einzubiegen, damit wir im Inneren der Häuserzeilen verschwinden können.

Die Neuengasspassage ist ein schmuckloser Schlauch. Läden: Schneiderei Ahmed, Grüezi Phone Solutions, World Of Vape, Headshop Fourtwenty – die Spitalgass­passage, ein Satellit vom Hauptbahnhof im alten Zustand, aber mit Sexshop MagicXXX – und Arztpraxen, Gemeinschaftspraxen.

Die Ladenpassagen wie sie sich anfühlen, dann bedrohlich anfüllen, randvoll mit Sinn und Sinnlichkeit – das nützlichste Angebot der Passagen ist die Abkürzung. Abkürzungen führen in dieser Stadt, die vor langer Zeit entschieden hat, sich längs zu verfestigen, oft durch die Passagen. Für ihre Benützung zahlen wir eine Art Wegsteuer, bemessen am vermischten Gefühl, die vielleicht in der plötzlichen Veränderung von Temperatur und Lichteinschlag einen äusseren, an der Zweideutigkeit von Haus und Strasse, Drinnen und Draussen, Privateigentum und Öffentlichkeit seinen noch oberflächlichen, aber schon inneren Grund besitzt. Das Rauchen ist hier erlaubt, aber es fühlt sich verstohlen an. Von diesem insgesamt fürchterlichen, aber dumpfen Gefühl beschlichen verlassen wir das zerzauste Realitätsprinzip der Innenwelt und landen, nur fast froh darum, wieder in der geschäftigen Aufgeräumtheit der Berner Gassen, als wären wir aus einem Traum erwacht.

Die Von-Werdt-Passage, Jugendstil. Und ein leerge­räumter Filmpalast –

Licht, Glas, Stahl: Das erste Zeugnis des Bautyps Passage besteht als Von-Werdt-Passage seit 1905 und bietet, falls wir uns, typischerweise aus dem Dunkel des Hauptbahnhofs aufgestiegen und entsprechend umnachtet, schon verlaufen haben sollten, die erste Korrekturmöglichkeit, um von der Neuen- in die Spitalgasse zu gelangen oder umgekehrt. Das Bauinventar sagt: «Die von Werdt-Passage darf gleichzeitig als ältester, bedeutendster und qualitativ herausragendster Vertreter der Berner Passagen bezeichnet werden.» Sie beschreibt einen leichten Knick, an dessen Südseite in den Zwanzigerjahren das Kino Splendid angefügt wurde mit seiner «würdevollen Arkadenreihe». Art-Déco. Das alte, im Untergeschoss schon länger umgegrabene Splendid ist heute bedeutungslos geworden und der Öffentlichkeit, ihren Flaneur:innen und den Kauflustigen verschlossen. Was uns die Formensprache der alten Von-Werdt-Passage weiter erzählt: An ihrem Anfang stand Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts und Geburtsort der frühesten Ladenpassagen. Spätestens jetzt muss Walter Benjamin auftreten, der sich mit den Passagen immerhin ungefähr tausendzweihundert Seiten oder dreizehn Jahre lang herumgeschlagen hat. Im «Passagen-Werk» beschreibt er, wie die städtebaulichen Umbrüche unter Haussmann mit breiten Boulevards ein potenziell revolutionäres Proletariat am Bau von Strassenbarrikaden hindern sollten, während die gehobenere Gesellschaft in den Ladendurchgängen, geschützt vor den Brandungen der Grossstadt, an der reichen Auslage von Neuestem vorbeispazieren durfte. Das Passagendach dieser industriellen, kaufmännischen und privatbürgerlichen Unternehmungen, es war gefertigt aus Eisen und Glas, wie die Bahnhöfe, Weltausstellungs-Pavillons, der Eiffelturm – und nur ein Stückweit höher im Himmel aufgehängt, vom Herrgott Ingenieur und seinem Karikaturenzeichner Grandville: ein gusseiserner Saturnring.

Wie sich das mit industriellen Ambitionen nur mässig ausgestattete Bern der Ankunft von Ladenpassagen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfreuen konnte, so anders offenbaren sich die Geschichten, die von diesen ausnahmsweise prächtigen, meistens unscheinbaren, da und dort miserabel anmutenden Bauten preisgegeben oder verkleidet werden möchten. So anders muss sich das Streunen heute anfühlen, wo das flanierende Personal und sein grenzgängerisches Potenzial von der Moderne längst entladen, der Benjamin seit über achtzig Jahren tot, wo statt dem Gehobenen und Luxuriösen sich eher das Verruchte, das Abgründige und durch LED Beleuchtete – das schlechte Gewissen? – in den Durchbrüchen zwischen den Gassen eingenistet hat. Wie ein Text zwischen den Zeilen. Was sich im Erscheinungsbild der Passagen und der Beschaffenheit ihres Angebots verbirgt, verbirgt sich immer zweifach, mehrdeutig: im Innern, verkleidet von einer als Eigentliches präsentierten Stadtstruktur und ihren Fassaden, gotische, gotisierende, barocke und neo-barocke, klassizistische und neo-klassizistische. Es ist der Platz im Hinterzimmer, der Bern seiner Moderne im Stadtzentrum zugewiesen hat.

«Die Bauten an der Neuengass-Passage führen exemplarisch vor, was in jenen Jahren [um 1950] die verbreitete Praxis war: Mehrere Altstadthäuser wurden durch einen kompletten Neubau ersetzt. […] Vorder- und Hinterhäuser wurden in Anlehnung an die originale Substanz, aber mit modernistisch versachlichter Detailsprache neu erbaut. So zeigt die Fassade zur Neuengasse vier verschiedene Systeme in spätgotischer Manier sowie in der Art des 17. und 18. Jahrhunderts. Geschosshöhen und – koten sind vereinheitlicht, sodass das beabsichtigte lebendige Bild durch die nach ökonomischen Kriterien vorgegebene Ausgangslage geprägt bleibt», sagt das Bauinventar. Die Berner Passagen sind versteckte Zugeständnisse, die allermeisten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Anders als im benjamin‘schen Paris sind sie kein Vorgriff auf, eher ein vor dem Postkartenfotografen verstecktes, kleines, dreckiges Zugeständnis an das 20. Jahrhundert und seine Konsumbedürfnisse. Vom Nicht-Träumen verschlüsselte Bedürfnisse.

Marktgasspassage: Die rekursive Eleganz der Fünfzigerjahre (wie auch im Aarbergerhof) mit schwungvollen Verweisen in die Zwischenkriegs-Moderne. Am ehesten noch Luxuslage. Glatz.

In der üblichen Betrachtung der Passage als Vorform des Warenhauses (eine Entwicklung, die in Bern wie natürlich umgekehrt verlaufen sollte), blitzt auch die folgende amüsante Episode auf, sie könnte heissen: Die Zahnlücke der Spitalgasse oder wie die Berner schon immer den gläsernen Spuk der Moderne zu vertreiben wussten. Als die Gebrüder Loeb für ihren Warenhaus-Neubau an der Spitalgasse eine nach internationaler Massgabe zwar genügsame, für lokale Verhältnisse anscheinend aber schockierende Fassade mit ausgeprägter Schaufensterverglasung über mehrere Etagen bauen liessen, hätte man sie am liebsten aus der Stadt verjagt. Nach nur fünfzehn Jahren musste die Fassade schon 1913 wieder abgebrochen werden, nach Protesten durch den Heimatschutz und eine Bevölkerung, die den Bau gern «Zahnlücke» schimpfte. Seither besteht eine Sandsteinfassade nach gutbernischem Zuschnitt an den Hausnummern Spitalgasse 47 – 53.

Die Zeughauspassage, das Einkaufszentrum will in die Stadt: Beim Eintritt in die Passage wird man von der Warmluft abgeschossen. Die Passagen-Themen von Eisen und Glas sind in eine heute schäbig wirkende, an postmoderne Shopping-Malls erinnernde Materialität übersetzt, Eklektik beherrscht den Lichthof, wo das Restaurant «Zum Äusseren Stand» mit bürgerlichen Pavillon-Fenstern aufwartet – Karl-Schenk-Passage: Die Fünfzigerjahre schwingen sich an den goldenen Geländern der Monumentaltreppe hoch, die Treppe hat rückseitig eine Wirbelsäule aus Beton. Der Geruch von Zigaretten und die Pfützen von Pirelliboden machen auf Wiedergänger. Ihren Hauptbahnhof wird die Stadt nie los.

Wie ein Fluch. Walter Benjamins Passagen-Werk ist etwas, das es gar nicht gibt. Oder doch unendlich-fach, jedenfalls blieb es unvollendet, musste vierzig Jahre nach dem Tod des Autors, der einmal als Sammler, Flaneur, Archivar, Literat und Übersetzer in ihm in Erscheinung tritt, als Buch erst herausgegeben werden, sehr mühsam, es ist ein riesiges Fragezeichen, ein Haufen von Zetteln, ein Archiv, eine Praxis. Es besteht in zwei Bänden, die wir in unserer Tasche mitführen können, wenn wir herumschleichen. «Die Arbeit über die Passagen setzt ein immer rätselhafteres, eindringlicheres Gesicht auf und heult nach Art einer kleinen Bestie in meine Nächte, wenn ich sie tagsüber nicht an den entlegensten Quellen getränkt habe. Weiss Gott was sie anrichtet, wenn ich sie eines Tages frei lasse» – es selber freizulassen war ihm nicht vergönnt, trotz ausgiebiger Tränkung an den Quellen der Pariser Nationalbibliothek, wo es schliesslich posthum vor der Besatzung und ihrem Stumpfsinn versteckt wurde. (Die hiesige Militärzensur hat indessen im Kino Splendid als verdächtig befundene Filme gesichtet.) Beim Streunen und Streifen: Die ganze Freude über das Unfertige, tausendfüssige Ungeheurchen im Sack. Unfertiges kann ewig schwingen. Und das Zweideutige sei die Dialektik im Stillstand, heisst es darin sehr schön. Das Gebaute steht still und wird doch von immer neuen Vieldeutigkeiten angegangen.

Schweizerhofpassage und Sündenfälle, temporäre und bauliche: Umweg oder Abkürzung? Der Westeingang, der eine angenehme Höhe anbietet, wird versperrt von einer Treppe, die ihrerseits verdorben ist durch Milchglas-Geländer. Satiniertes Glas, wie es in direkter Verbindung steht mit der Erfahrung von Raststättentoiletten, Bushaltestellen, Turnhallen, Überbauungen in der Agglomeration und ähnlicher Systeminfrastruktur. Ist es exakt das Material der Provinz? Ein Halbdurchsichtiges, wie es hier den opaken Grundcharakter, halb Drinnen, halb Draussen, jeder Passage in sich noch multipliziert und einen Traumzustand ins Psychotische wendet? Im Innern der Passage zwei Höfe, unfruchtbar gemacht von 1) einem Festzelt und 2) obszönen Sonnenschirmen. Ferner ein Piercing-Geschäft. Bar Venezia –

Wir verschwinden in den Passagen fast ganz, die Unsichtbarkeit der Menschen im Innern der Durchgänge ist frappant. Wer sich als Pfau in sie hineinbegeben wollte, würde sofort zum Rebhuhn schrumpfen. Es ist unmöglich, jemanden in einer Passage anzutreffen, was eine leise Ahnung des Grossstädtischen ermöglicht. Nichts dergleichen in den Laubengängen der Altstadt, was den vordergründigen und abscheulichen Verdacht, der ganze Stadtkern könnte eine pervetierte, mit unzähligen Seitenarmen ausgestattete Passage sein, ausreichend entkräftet. Ausserdem auch die seitliche Belichtung.

Aarbergergasse 35: Circle Club, Spielhalle Las Vegas da, wo eben noch der Speedy Cash war, war er jemals da? Best Barber Shop, Hot Shot Bar, Ebrietas, Empanadas.

Alles nur flüchtige Bestände, Geister.