Der andere Xaver

Xaver Marthaler über eine wahre Begebenheit.

«Xaver hat dann…» – «Was habe ich?» «Nicht du, der andere Xaver.» «Der andere Xaver?»

Das Grauen erwischt mich im Büro meiner Lieblingszeitung, in dem der Rauch in der Luft steht, so dass man ihn greifen möchte. Wo die Kolleg*innen ihren Mund immer wieder leise liebkosend um Flaschenhälse stülpen. Draussen würgt der Februar die Welt ein letztes Mal. Vorfreude auf Draussen und Frühling nach den Zeiten des dunklen Exzesses.

Im Neocolor-Bilderbuch «Xaver und Wastl» von Heidrun Petrides bauen zwei Freunde eine Baracke aus, schaffen sich einen Schutzraum vor der Welt draussen, etwas Eigenes. Wenn mein Vater, das Buch im Schoss, die Geschichte erzählte, dann waren es nicht Xaver und Wastl, es waren Xaver und Sophie – ich und meine Schwester.

«Der andere Xaver halt.»

Es gibt da noch einen anderen Xaver in Bern, manche meiner Freunde wissen von dir. Nicht nur, dass du von deinen Eltern den Namen «Xaver» bekommen hast, nein, auch dass du dir das Recht herausnimmst, dich ungefragt in die Peripherie meiner sozialen Kreise zu mischen. Ich nehme mir vor, herauszufinden, wer du bist. Dann Corona.

«Ich habe vergessen herauszufinden, wer das ist», denke ich irgendwann im Mai, durch den nächtlichen Wald stapfend, nach einem bier- und geschmacklosen Rave unter einer Autobahnbrücke, der kurz darauf unspektakulär durch die Polizei beendet wird.
«Er hat gesagt, er sei da und wisse, dass du auch da bist.» «Der andere Xaver?» «Ja, der andere Xaver.» «Verdammt.»
Ich wusste nicht dass wir zu zweit spielen. Und ich bin auf bestem Weg, das Spiel zu verlieren. Aber gut: Game on.

September. Das ganze Jahr in meinem Kopf zu einer dickflüssig-depressiven Suppe vermengt, die auch mit mehr Wasser und einer ausgiebigen Partie mit dem Pürierstab höchstens auf mediokres Geschmackslevel gehoben würde. Irgendwo darin bist du untergegangen. Samstagmorgen, ausgeschlafen werfe ich einen ersten Blick auf mein Handy. 00:57: Verpasster Anruf, unbekannte Nummer.

11:17: «hallo fremde*r. wer bist du und wieso hast du mich letzte nacht versucht anzurufen?»

13:53: «Hallo. Bin auch Xaver»

Die Demütigung ist komplett. Du alles, ich nichts. Du Handynummer, Hinweise an Raves. Ich nichts. Am Nachmittag sitze ich in einem Garten und hole mir mein Mitleid im Freundeskreis ab. Sie sagen: «Du musst irgendwie wieder Symmetrie herstellen.» Mein Handy vibriert.

15:25: «Chunnsch nöime es kafi go nä?»

«Du musst Dominanz zeigen, ein Treffen käme einer Kapitulation gleich.»

16:13: «uf ke fau»

Danach lange Funkstille. My turn: Ich bringe in Erfahrung, wo du wohnst. Schicke eine Postkarte. Motiv: Xaver und Wastl, «chunnsch nöime es kafi go nä?» Keine Antwort. Völlig überreagiert. Tut mir leid.

Ein Mittwoch im November. Ich treffe eine Freundin und erzähle ihr beim zweiten Glas Rotwein die Geschichte. Sie lacht. Sie kennt dich auch, spielt mit dir in einer Jassrunde. «Sag ihm, es tut mir leid.» Donnerstag trifft sie dich.

Freitag. «Mach dir keine Sorgen Xaver, er hat die Postkarte über seinem Pult aufgehängt. Er weiss, mit wem du wohnst, aber nicht wo. Und er denkt, deine Haare seien schwarz. Er ist on.»

Seit ich weiss, dass du wieder mitspielst, bin ich auf der Hut. Ich erwarte einen nächtlichen Besuch. Flutlicht. Psychoterror. Doch es vergehen Tage, Wochen, ein Monat. Nichts geschieht. Wieder einmal droht unsere Geschichte zu verlaufen, an Schärfe zu verlieren. Sie rutscht ab in die hinteren Reihen der wenigen Stories, die überhaupt noch zu erzählen sind in dieser Zeit, in der sich ausser der Müllabfuhr und den verzweifelten Versuchen, betrunken an selbst aufgestellten Konventionen aufzulaufen, wenig ereignet.

Ende Dezember greife ich in den Milchkasten und finde darin eine Annäherung an das Nokia 3310 – angefertigt aus Holz. «Hallo Xaver» steht auf dem Screen. «Hallo Xaver», denke ich.
Komplizierung der Kommunikationsmittel, wir sind wieder im Wettbewerb. Ich biete dir per Sprachnachricht auf einem Abspielgerät vor deiner Haustüre Normalisierung an.

8. Januar, 7:58: «Hetsch hüt zyt und lust ufenes kafi:) lg xaver»

Wir treffen uns am frühen Nachmittag bei dir. Zwischennutzung als Gewissenhaftes, ihr baut euch selber Räume ins Haus und benutzt euer Atelier als Atelier. Wir nehmen die Bialetti nach draussen, analysieren den Spielverlauf. Fühlt sich nach Abschluss an. Du erzählst, dass du von einem Freund die Nummer meiner angeblichen Cousine bekommen habest. Über diese dann meine angebliche Adresse. Dort hast du mal geklingelt, standest gar in der Wohnung. Und dann wurde dir klar, dass es noch einen dritten Xaver in Bern gibt.

Derweil fliegt der Arm unseres Heiligen, Franz-Xaver von Assisi, mit Air Canada auf einem eigenen Sitz. «Versuchen Sie einmal, das ‹Air Canada› zu erklären. Wir müssen einen Sitzplatz reservieren. Für eine Person in gewisser Weise, aber es ist keine Person, es ist ein Arm.», sagte Angèle Regnier, Mitbegründerin von Catholic Christian Outreach, die den Arm begleitete, gegenüber der Catholic News Agency.

Weitere Xaver dürfen sich zwecks Vernetzung gerne bei KSB oder direkt beim Autor melden.