Der kleine Polizist in mir

Der Club hustet mich samt einer Badewannenfüllung Theaterrauch auf das furztrockene Trottoir, das im Laternenlicht der Winternacht liegt. Ich nerve mich, so lange unten im Backstage verhangen zu haben. Gefangen gehalten von diesen Gesprächsinflationen, die alles Grübeln neutralisieren wie der Autobahnmittelstreifentakt – hielte das Gehirn eine Schmusekatze, hiesse sie: der Stumpfsinn. Jetzt schäme ich mich und frage beim Türsteher, «ist es schon spät?» – «05:20, aber sobald du darüber nachdenkst, ist es sowieso zu spät.»

Der Spruch gibt mir den Bogen und ich beschliesse, zur Verdauung den Brezelkönig anzusteuern. Bis zum Bahnhof sind es nur knapp 250 Meter das Bollwerk hoch. Ich gehe quer über die Strasse und merke, dass sich mein Tempo wie ferngesteuert etwas erhöht hat – ich drehe mich um, werde ich verfolgt? Der Blick zurück verrät mir eine Gestalt in speckiger Daunenjacke und Pelzsaumkapuze. Sie nähert sich im Stechschritt und fragt, auf gleicher Höhe angelangt, «Ça va ou quoi?» – «oui», sage ich hündisch. Die Gestalt zielt offensichtlich an mir vorbei. Ich kneife die Augen zusammen und sehe weiter vorne eine andere Figur – gewachster Parka, hochgeschossen, um den Bauch gleichwohl von behäbiger Statur. Mutmasslich besoffen, jedenfalls schwer schaukelnd, wie ein Kegel an seinem Strick, kurz vor dem Fallen. Und da schlauft sich die herangeeilte Daunenjacke aber gerade rechtzeitig ein, stützt den Parka und hält ihm sanft eine Hand in den Rücken.

Wie innig das doch ist. «Es gibt nichts Zärtlicheres als zwei Trunkenbolde, die sich stützen», hat doch Camus schon irgendwie gesagt und ich hole die beiden beruhigt ein. Von nahem sehe ich – hoppla, die Hand der Daunenjacke ist mittlerweile doch ganz schön tiefer gerutscht. Und tastet die da sogar am Hintern von diesem Parka rum? Geht es hier etwa ferner noch um Zärtlichkeit? Ist das hier ein angestricktes Verhältnis aus einer Bar vielleicht, im Begriff, das Garn wieder aufzunehmen? Aber die Romantik wird Lügen gestraft: Ich werde Zeuge, wie ein pralles Portemonnaie den Halter wechselt. Die Daune hatte sich erst rangetastet, das Vertrauen aufgebaut, geprüft was geht und dann elegant eingesackt. «He, mais laisse tomber!», rutscht es mir in meiner Gutgläubigkeit gekränkt heraus. Die Daune dreht den Kopf und gibt unbeeindruckt zurück, «je fais rien que d’aider. C’est mon ami-là, tu vois, il se sent mal à l’aise. Et de toute façon, qu’est-ce que ça te regarde, toi?» Der Parka entpuppt sich derweil durchaus als huckevoll, regelrecht ergeben und blubbert etwas vor sich hin von wegen «BuBuBurgerking». Der weiss ganz einfach nicht, wie ihm geschieht. «Eh, raconte-moi rien, je l’ai vu. Tu lui as piqué son portemonnaie, puis ça me regarde au point de vue que ce n’est pas juste!», bestärke ich mein Einschreiten unter Zuzug der allgemeinen Gerechtigkeit und merke, wie sich mir dabei verlegen die Brust aufbläht. «Wallah – un juste – ce sont le plus dangereux! Puis je croyais qu’en suisse, c’est la police qui fait la justice, haha», kontert die Daune und wiegt dabei das Portemonnaie demonstrativ in seiner rechten Hand. Hält es noch nicht einmal für nötig abzuhauen, während der Parka derweil noch immer überhaupt nichts peilt und sich schwer schnaufend am Ampelpfosten beim Fussgängerstreifen abstützen muss. Wir sind unterdessen am Bahnhof Höhe Brezelkönig angelangt. Andere Leute sind kaum da und wenn, gehen sie unter Kappen verschanzt ihre weiten Bögen. Mir steigt die Wut auf, was mache ich hier eigentlich? Der Parka scheint aus der Nähe betrachtet sowieso einigermassen wohlstandsverwahrlost. Wikingervisage mit gestutztem Bart und die Sauceflecken auf seinem Stone Island-Rollkragenpulli für mindestens 300 Franken – sie erzählen mir was. Also was kümmerts mich, wenn so einer bestohlen wird? Eigentlich finde ich unterdessen, dass er es sogar verdient hätte für diesen blamablen Auftritt. Und trotzdem hält mich etwas als sein Anwalt – «Regarde ce pauvre type», sage ich zur Daune, während ich auf den Haufen Elend beim Ampelpfosten zeige. «Regarde le, il est complétement défoncé. Il ne sait même pas où il se trouve. C’est contre le cœur, c’est contre l’honneur de voler d’un pauvre type comme celui-ci.» – «Wallah, petit raciste, essayer de me coincer avec l’honneur, seulement comme je te semble arabe ou quoi? Le pauvre type, c’est toi», bellt die Daune zurück. «Rends lui son portemonnaie», lege ich nach. «Ecoute», sagt sie scharf, «comme tu me places déjà au monde du bazar je te propose un trafic. Répète cette phrase et je lui rends sa bourse, répète: ‹Le pauvre type, c’est moi.›» Ich schlucke leer und sage es: «Le pauvre type, c’est moi.» Die Daune lacht, zieht alle Banknoten aus dem Portemonnaie, wirft es Richtung Parka und haut ab. Der Geldbeutel klatscht an dessen dicken Bauch und landet unter einem Kreditkartenregen am Boden.

Dieser Text erschien zuerst in der Januarausgabe des KSB Kulturmagazins.