Der lange Arm Jesu Christi

Hör mir auf mit Drogen: Sex, Sport und Fressen – das ist das Triptychon des banalen Glücks. Im Turnus widmet sich KSB der scheinbaren Einfachheit des guten Lebens.

Lino hört einfach nicht auf, Knochen vor uns aufzuhäufen. Er stellt eine Platte vor uns ab, auf der so viele Markknochen liegen, dass ich mich wundere, wie alle ihren fettigen Inhalt bei sich behalten haben auf dem Weg zu uns. Und sich nicht einfach entleert haben, bei der kleinsten ungelenken Bewegung ihres Trägers. Bei der ersten Runde denke ich: Schön viel, so ein längs halbierter Knochen, ganz für mich allein. Ich schabe vorsichtig den Inhalt heraus, stosse manchmal an starre Netzstruktur. Erst zurückhaltend und mit viel Zwiebel-Rotwein-Sauce, dann immer mutiger häufe ich den Schlabber auf das getoastete Weissbrot. Ich habe noch nicht einmal die Hälfte des Knochenmarks herausgeschabt, als Lino schon die nächste Ladung bringt.

Als wäre die Sitzordnung kein Zufall gewesen, stellt sich meine Tischnachbarin als Bieler Köchin und Expertin in Sachen Knochenmark heraus. Von ihr lerne ich kurzerhand alles, was Generation Chicken Nuggets verpasst hat: Knochenmark mache einen sofort gesund, wenn man angeschlagen sei. Ein Redli in der Suppe mitgekocht und gut ist. Ausserdem enthalte es so viel Eisen, das glaube man kaum. Mit grossen Augen kratze ich weiter in meinem Knochen. Lino bringt die dritte Platte.

Sie fasziniert und ekelt mich zugleich, diese kleine Orgie. Obwohl das Knochentier natürlich seines Fleisches wegen sterben musste und wir im Grunde nur den Abfall der Fleischeslust anderer verwerten – es fühlt sich pervers an, dem Tier die Knochen auszuschaben. Es bis aufs Innerste aufzuessen. Bevor sie ihm entwendet wurden, hat es in seinen Knochen, genauer im Mark, sein Blut produziert. Das floss ihm von dort aus durch den ganzen Körper, wärmte es im Kreis, verband Kopf und Schwanz.

Vielleicht liegt der Grund für meine Ambivalenz in der Symbolik von Knochen. Mehr als es ein Stück Fleisch es täte, weisen sie mich auf den Tod hin, der gestorben werden musste für diesen dritten Gang der Tavolata. In solchem Gemütsgemenge drängt es sich auf, auch unsere christliche Prägung zu verdächtigen. Vielleicht ist es nämlich der lange Arm Jesu Christi, der mir da in den inneren Haushalt langt, steht doch in seiner Homestory: Die Seele eines Wesens ist in seinem Blut. Obwohl unser Knochentier sein Blut in der Metzgerei liess, kommen wir dem Ursprung seiner Seele doch sehr, sehr nahe mit unseren Löffeln.

Irgendwann beschliesst Lino, es sei nun genug. Es raschelt der Plastik, dann das Papier, die Zigaretten zwirbeln in den Fingern. Auf dem Weg nach draussen offenbart sich in der Küche der Berg, den die ausgehöhlten Knochen bilden. Ich bin unschlüssig, ob ich mich gesund fühlen kann.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Februarausgabe des KSB Kulturmagazins.