«Wie rock ich euch denn jetzt?» fragt er uns noch, bevor er auf die Bühne gebeten wird, Lukas Bärfuss, Büchnerpreisträger und scheissnervös. Darauf wissen wir keine Antwort, ich muss kurz an das wahrscheinlich allerschlechteste Stück von Queen denken. Wir haben uns eben erst in das ausverkaufte Lokal reingemogelt, Bärfuss im Rössli steht auf der Affiche – mancher hat vielleicht des Kontrastes wegen den Weg hierher gefunden.
Der Koala auf dem Büchertisch, gegenüber schläft ein müder Hund im Schutz des Bartresens. Im Allgemeinen ein eher sozialdemokratisch durchmischtes Publikum wie zur Plattentaufe der Kummerbuben o.ä., brav interessiert und nicht selten mit dünnem Haar, andere noch nicht einmal auf der Welt in der erzählten Zeit jener Anekdoten, mit denen der Autor den Abend eröffnet. Die paar Worte zur Reitschule der frühen Neunzigerjahre, wie an eine alte Freundin gerichtet, die man zwar und vielleicht im Streit aus den Augen verloren hat, nie aber aus dem Sinn. Ein paar Worte von tiefer Sympathie und bedingter Distanz.
Bitterer wird der Ton mit dem ersten Text. Bleierne Achtzigerjahre in der Garnisonstadt Thun und den Falten ihrer ruralen Hinterhalte, Tankstellengebiet, Puffs, Pulver, chemische Reinigungen und chemische Unfälle. Witzwil, Thorberg, Blues – Töbeli und Röscheli kommen ab der Spur. Willkommen in der biografisch verbürgten Lieblingstopographie jener Berner Autorengeneration, der auch Bärfuss angehört; weiter ins Oberland hinein begegneten wir Roland Reichens holzköpfigem Bub und im vernebelten Oberaargau, auf derselben verflixten Folie, spiegelte sich Pedro Lenz› Goalie. Bitter ist die Flucht und süsslich Nostalgie. Wenn einer Puch Maxi sagt, gehen Herzen auf.
Eine handvoll Texte raunt Bärfuss ins stille Rössli. Er kompiliert sie geschickt, macht gleich mit dem ersten klar, woher er kommt – und dass er noch etwas Restdreck auf den Lederstiefeln trägt, dass noch etwas oberländische Americana mitschwingt in seinen Liedern. Rock’n’Roll eben. Die Beflissenheit als selbstgemachter Bildungsbürger und Citoyen, die ihn von den genannten Autorenkollegen unterscheidet, offenbart sich in den argumentativen Texten: Ein utilitaristisch grundierter und mit aktionistischer Pose schliessender Anti-Essay ist der Reflexion über die Liebe zum Theater vorangestellt. Deren Poetik schlägt den Bogen zurück in die Kindheit, zurück in die muffige Kleinstadt, der die im Nachtclub engagierte Mutter immerhin in den funkelnden Augen des Jungen etwas Glamour abringen kann. Zum Schluss gehts ins Weltformat, gehts um Öl-Wolkenkratzer, Öl-Scheinwelt und Öl-Justiz in den Landen der Emiren: vom Kleinen ins Grosse. Aus der engen Vergangenheit in eine unübersichtliche Zukunft. Immer getragen von einer ihren Themen angenehmen, aber durchgängig klassischen und eleganten Sprache, die nur in den seltenen Momenten der Schwäche ebenjenes Citoyen-Streben offenlegt, das Bärfuss nicht allen sympathisch macht.
Will einer auch nicht zwingend sein. Umso grösser ist die Vorfreude auf die angekündigte Diskussion, die dann doch und typischerweise nur schleppend in die Gänge kommt. Endlich: Eine fragt nach dem moralischen Kompass, danach, wie denn das Falsche in der Welt überhaupt zu erkennen sei. «Mit dem Härzli dänk», entgegnet Bärfuss und fügt an, ihm sei das «Präpotente» verdächtig, das Mächtige oder Macht Behauptende. Es muss schwierig sein, auf diese eigentlich religiöse und devote Frage aus dem Stand eine brauchbare Antwort parat zu haben, aber in diesem Moment ist Bärfuss genau der Lehrmeister, den er anprangert. Und explizit wird das hierarchische Ungleichgewicht später, als das Gespräch auf die Tugend des Mutes kommt: «Wart ihr etwa in meinem Kurs heute? Da ging es am Ende auch um Mut.»
Lieber Herr Schulrat: Nein, wir waren nicht in Ihrem Kurs. Danke. Dass die Situation dieser Problematik schliesslich überführt wird, ist einem aus den hinteren Reihen zu verdanken, der zur letzten Bemerkung aus dem Publikum ansetzt: «Das Charisma» sagt er, «erzeugt doch Gefolgschaft, Gemeinschaft, Gemeinden – und Gemeinden hören gerne Predigten. Mir gefällt deine Predigt und ich gehe gern zur Kirche. Aber ich bin Atheist. Ginge es also nicht darum, gerade in der machtkritischen Literatur, das Charisma zu unterwandern?»
«You got me.» lenkt Lukas Bärfuss ein. Es ist ihm zugute zu halten in den Wirren der Diskurse. Der Rock’n’Roll im Übrigen, er ist lange tot. Die Kirche aber, sie ist nicht totzukriegen. Und nur allzuschnell ist man selbst der Pfaff, gegen den man rebelliert.