Als ich einmal kurz sehr naturverbunden war

In Anlehnung an Christian Krachts Pennälerkolumnen, versammelt im Band «Der gelbe Bleistift», schickten wir unsere Reisereporterin Sarah Wyss nicht nach Asien, sondern ins Berner Oberland.

Saanenmöser, 2020

Ein Bericht über eine Reise ins Berner Oberland mag Ihnen vielleicht etwas lächerlich erscheinen, sind es doch sonst nur naive Ökofamilien, die zu solchen aufbrechen, weil sie sich einbilden, sie könnten den Klimawandel stoppen, indem sie die nächste Generation zu besseren, das heisst naturverbundenen, Menschen erziehen. Was im sogenannten Inland an Reisen passiert, ist bäurisch, geizig und nationalistisch. Doch sobald die abenteuerversprechenden Flugzeuge, die wie vor ihnen der TGV zum zweiten Wohnzimmer der Mittelklasse verkommen, einmal wegsanktioniert sind, besinnen sich alle auf die, bitte entschuldigen Sie den Ausdruck, Naherholungsgebiete. Versprochen wird eine Kulisse mit atemberaubenden Bergsilhouetten, kalten Bächen, einem kleinen wilden Wasserfall vielleicht und saftig-grünen Wiesen, die nur darauf warten, von den Amateur*innen zu Fuss oder mit dem Fahrrad durchquert zu werden. An ihren Velos sind dann Velotaschen befestigt, sie selbst in Vollmontur, mit Velohandschuhen und Velodress, Velotrinkflasche und Velosocken ausgerüstet. So stürmen die Schweizer*innen ihr Land. Wer keinen Flyer hat, fährt das erste Stück mit dem Zug, das Velo gut versorgt in der eigens dafür entwickelten Velotransporttasche (und somit einer Velotasche in einer Velotasche).

Vor diesem schändlichen Hintergrund musste diese Reise also passieren. Wir gingen dennoch los, mein charmanter Reisebegleiter und ich. Da wir nicht im Sinn hatten, gänzlich zu verwildern, nahmen wir ein bisschen Feuilleton mit: «Das Magazin» und zur leichten Unterhaltung einen Pedro Lenz oder dergleichen. Eingekauft hatten wir schon zuhause in der Stadt, damit wir die äusserst scheuen Eingeborenen nicht unnötig in Stress versetzen mussten mit unseren unanständigen, städtisch-modernen Bedürfnissen. Von früheren Reisen in die Umgebung wussten wir, dass sie einen grossen Bogen um uns machen würden, da sie uns ansahen, dass wir direkt im Epizentrum der Seuche lebten und nichts Besseres wussten, als das Unheil auch noch die Berge hoch zu tragen. Der Zug spuckte uns aus, und wir stiegen gut bepackt zum kleinen Chalet hoch, um es uns ein paar Tage gut gehen zu lassen.

Am Berg angekommen, ergriff uns sogleich der merkwürdige Wunsch, wandern zu gehen. Es scheint im Naturell der Schweizerin und des Schweizers zu sein, einen Hügel, der sich vor ihnen aufbaut, besteigen und überkommen zu wollen. Es mag Ausdruck des ewigen menschlichen Machtgebarens sein, vielleicht aber auch einfach der Neugier. Auf unserer kurzen Wanderung, die diesen Namen kaum verdient hat, passierte selbstverständlich wenig, abgesehen von den Rufen ein paar einsamer Vögel, die sich lautstark nach Tinder sehnten. Und dass wir nasse Füsse bekamen. Obwohl immer mit ihnen auf verheissungsvollen Postkarten gelockt wird, gaben sich weder Murmeltiere noch Gämsen, geschweige denn Steinböcke die Ehre, und so nahmen wir Vorlieb mit den brünstigen Weinbergschnecken, die sich in Kleingruppen vor dem Haus tummelten. Da mich Nina Kunz im Tagimagi gerade zu iPhone-freien Tagen überreden wollte, griff ich demonstrativ nach meinem Telefon und googlete den Fortpflanzungsakt der Schnecken. Auch Nina Kunz hätte diesen langwierigen Beobachtungsakt wohl nicht durchgestanden. Dabei könnte manch eine*r etwas lernen von diesen sinnlichen Tieren, die sich dem, was Menschen frevelhaft als «Vorspiel» bezeichnen, während bis zu 20 Stunden widmen. Den Rest bringen sie dann relativ zügig hinter sich.

Später bequem auf der bürgerlichen Terrasse platziert, wir hatten soeben die ersten paar Wörter in Trudy Müller-Bosshards Kreuzworträtsel eingetragen, befand jemand auf der anderen Seite des Tals den Moment für günstig, das Alphorn hervorzuholen. Die dargebotenen Naturtöne waren dem Tuten des lüsternen Vogels erstaunlich ähnlich. Mit so viel Kitsch hatten wir nicht gerechnet, zudem war uns die Intimität des Balzakts etwas unangenehm. Nachdem auch nach einer Stunde niemand zurückgeblasen hatte, gab das Alphorn auf, auch hier: kein Match. Es sind harte Zeiten auf Tinder und seinen ruralen Urformen, wie mein reizender Reisebegleiter pointiert anmerkte.

Es wurde Zeit für die Rückkehr. Im Zug trafen wir auf die Amateur*innen in Patagonia und Mammut und erfreuten uns ob der Systematik ihres Zwiebelprinzips: Der Wind- und Regenjacke folgte ein leichtes Daunengilet, darunter kam ein Funktionsshirt zum Vorschein, das in möglichst grossem farblichen Kontrast zu der Funktionshose stehen musste. Die Trekkingsocken, welche die müden Füsse sanft, aber nicht zögerlich oder zu eng umschlossen, versprachen, dass diese Füsse nie Blasen ertragen mussten, geschweige denn diese schweissige, unangenehme Wärme oder die darauffolgende feuchte Kälte. Dann zogen die Wankdorfer Hochhäuser vorbei und der Regen schlug ans Zugfenster. Die Funktionsjacken zogen sich vorsorglich die Velohelm-Regenschütze über die Velohelme. Am Bahnhof fuhren sie uns trocken davon. Uns blieb als einziger Schutz das Feuilleton, das wir uns über die Köpfe hielten. Wir stolperten zu unseren Fahrrädern und fuhren los. Nach einer Minute hatten sich kleine Seen in meinen Schuhen gebildet, in denen meine Füsse bei jedem Pedaltritt schmatzten. Es klang unangenehm vulgär und primitiv. Transa hatte uns besiegt.