Der Wundmanager von Bern

«Wir sprechen hier von chronischen Wunden, nicht von chirurgischen – solche Verletzungen brauchen Zuwendung, Verständnis und Sorgfalt; sie brauchen Zeit. Das ist eine Angelegenheit für Profis und die Nachfrage an Fachpersonen steigt stetig – unsere Gesellschaft wird älter und kränker. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig Ahnung gewisse Ärzt*innen von Wundbehandlung zu haben scheinen. Da kommen Menschen mit Sachen zu mir, das kannst du dir nicht vorstellen. Ich nehme mich diesen Leiden an, das ist meine Passion geworden. Momentan habe ich aber leider keine Lust mehr zu arbeiten.»

Marc-André Isler, bürgerlich, gerufen aber beim Punknamen, Speedu, ist diplomierter Pflegefachmann und akademisch zertifizierter Wundmanager. Zehn Jahre war er Pflegefachmann, hat berufsbegleitend in Zürich sowie Wien studiert, sich vertieft und danach selbständig gemacht. Die Schweiz gilt in Europa als Schlaraffenland der ambulanten Pflege. Das bedeutet auch mehr Möglichkeiten zur Selbstbestimmung für Berufstätige – die Profilierung der Nischen. Krankenkassen und die meisten Kantone unterstützen die nicht stationäre Behandlung von Patient*innen; bis anhin auch Bern. 2021 jedoch wurde die sogenannte Spezialist*innen-Entschädigung für selbständige Expert*innen ersatzlos gestrichen – ein Angriff auf Selbsterwerbende wie Speedu.

«Der Gesundheitssektor ist von Grund auf hierarchisch, bekanntermassen, das merke ich vor allem, wenn es darum geht, eine ärztliche Person ans Telefon zu kriegen, wenn ich mich über den Krankheitsverlauf der Patient*innen austauschen möchte. Der Schlüssel zur geglückten Wundbehandlung ist deren Geschichte, ihre Kausalität zu verstehen. Aber ich bin auf Zuweisungen der Patient*innen durch die Ärzt*innenschaft angewiesen, weil ich keine Behandlung verordnen darf. Für mich ist allein das schon Grund genug, meine Arbeitskraft nicht in Institutionen verschwenden zu wollen. Diskussionen auf Augenhöhe zwischen Pflege und Ärzt*innen sind da kaum vorgesehen – althergebrachte Arbeitsteilung, Statusdenken, Rentabilitätszwang der Spitäler. Die Selbständigkeit hat aber auch ihren Preis, ich muss 24/7 abrufbar sein, 365 Tage im Jahr. Und jetzt kürzt uns Selbstständigen der Kanton die Spezialist*innen-Entschädigung von 24.55 Franken pro abgerechnete Stunde. Das bedeutet faktisch, dass es in der ambulanten Pflege im Kanton Bern ab dem 1. Januar 2021 keine Rolle mehr spielt, wer die pflegerische Tätigkeit tatsächlich leistet – egal, ob eine Lernende mit zum Beispiel sechzehn Jahren oder eine diplomierte Pflegefachperson mit entsprechender Berufserfahrung plus Zusatzausbildungen. Und Gesundheitsdirektor Pierre-Alain Schnegg, die Politik, verkauft das der Gesellschaft als gewerkschaftlichen Fortschritt, als Egalisierung des Berufsfelds. Für mich sind das verkappte Sparmassnahmen und ein weiterer Tiefschlag für die ohnehin gebeutelte Pflegebranche. Ich fühle mich degradiert, um meine Weiterbildung sowie berufliche Erfahrung geprellt und sowieso nach der Corona-Zeit vor den Kopf gestossen. Ich muss mir überlegen, wie das weitergehen soll und darum mache ich jetzt erstmal eine Auszeit.»

Speedu berichtet elegant von seinem Handwerk; theoretisch sachlich, ohne Voyeurismus, die Privatsphäre seiner Patient*innen ist ihm heilig und trotz dem momentanen Frust umgibt ihn eine Aura von surrealer Freundlichkeit – Chomsky hätte seine Freude an diesem Charakter. Er denkt schnell, ist nicht missionarisch, sondern angenehm, ansteckend, unverblendet humanistisch; eine selten mehr aufziehende Wolke vernünftigster Klarheit füllt den Gemeinschaftsraum an der schattenhalb der Altstadt liegenden Postgasshalde 21, wo wir miteinander sprechen. Speedu teilt sich hier mit mehreren selbstständig Erwerbenden sowie einigen Vereinen ein Büro.

«Das klingt jetzt vielleicht etwas philosophisch, aber daran halte ich schon fest: Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstzerstörung. Darum begegne ich jeder Wunde gleich, ohne Wertung. Drogen-Abusus, Alter, Arbeit, das spielt keine Rolle, ich pflege den Zerfall. Das ist auch ermächtigend, wenig ist unmöglich, chronische Wunden sind eine radikale Vergegenwärtigung von Ursache und Wirkung. Ab einem gewissen Alter ist der Körper beispielsweise so hinüber, dass er sich nicht mehr selber heilen kann. Oder ein noch junger Mensch ist von Substanzen dermassen angefressen, dass nur noch spezifische Methoden helfen. Aber die helfen eben und ich habe dieses Wissen, ein Wissen das den Ärzt*innen abgeht, weil die Wundbehandlung kaum thematisiert wird im Medizinstudium. Eine chronische Wunde gilt nicht als Krankheit, sondern als Symptom, somit wird sie bagatellisiert – verbinden sollen die Pflegefachpersonen. Das sind auch strukturelle Probleme. Dem Paroli zu bieten motiviert schon; die Pflege muss endlich aus dem Dunkel hinter dem weissen Kittel hervortreten.»

Ich wünschte mir Speedus Verstand als Hörspiel in Dauerschleife für alle Stammtische der Schweiz. Er stiesse da mit seiner Nahbarkeit auf vielleicht unerwartet grosse Resonanz.

«Kannst du mir das mit den Kürzungen der Gelder nochmal erklären? Habe ich dich richtig verstanden, dass da gewissermassen im Mäntelchen von mehr Gerechtigkeit im Berufsfeld Sparmassnamen auf dem Rücken selbständiger Pfleger*innen abgewälzt werden?»

«Es ist so: Als Unternehmer*innen unserer selbst sind wir Freiberuflichen im Sektor der ambulanten Pflege tätig. Die ambulante Versorgung ist in drei Sparten gegliedert: öffentliche Spitex mit gesetzlicher Versorgungspflicht, private Spitex-Organisationen – von Stiftungen oder Mäzen*innen finanzierte – und eben die freiberufliche Pflege. Private und Freiberufliche unterliegen nicht der gesetzlichen Versorgungspflicht. Nun herrscht aber ein Mangel an Pflegekräften in der öffentlichen Spitex und da rücken die spezialisierten Freiberuflichen ins Fadenkreuz, auch von linker Seite wird uns gewissermassen Rosinenpickerei vorgeworfen. Durch die Kürzung der Entschädigung für Spezialist*innen wird versucht, auch Freiberufliche wieder für die allgemeine Pflege zu mobilisieren. Nach aussen klingt das vernünftig, eine staatliche Regelung entgegen einer Elitisierung der Branche; für mich ist es vielmehr Ausdruck davon, dass sehr wenige eine wirkliche Ahnung vom Berufsfeld haben. Und eigentlich geht es um Geld. Gerade eine qualitativ hochwertige freiberufliche Sphäre wäre die viel nachhaltigere Sparmassnahme. Wir können mit unserem Know-how Impulse geben, die in der Abfertigung gerade im Spitalbetrieb niemals entstehen.»

«David Lynch hat mal gesagt, eine Wunde ist von atemberaubender Schönheit, solange man nicht weiss, dass es sich um eine Wunde handelt. Kannst du damit etwas anfangen?»

«Lynch spricht von der Veränderung unserer Wahrnehmung, wenn gesellschaftliche Stigmata wegfallen oder unsere Basisemotionen, in dem Fall Ekel, überlistet werden. Das ist ein interessanter Aspekt. Mich fesselt aber vor allem das Zwischenmenschliche. Mit der Kirchlichen Gassenarbeit habe ich beispielsweise das Projekt Street Wound Care am Laufen. Das Behandeln von Menschen auf der Gasse ist besonders herausfordernd. Das Verdrängen von körperlichen Gebrechen verstärkt sich, je prekärer die Lebensumstände – und dann ist da noch die Omnipräsenz der Scham. Wunden können übel riechen sowie optisch sehr ‹wüst› sein, sie konfrontieren die Person mit der eigenen Hilfsbedürftigkeit. Der erste Schritt zur Behandlung, die Enthemmung, ist der springende Punkt. Danach merken die Leute meist schnell, dass ich eine coole Socke bin. Und dann wollen sie von niemandem mehr sonst behandelt werden. Diese Verantwortung ist auch Bürde, gleichzeitig ist mir diese Intimität das wichtigste menschliche Leuchten.»

Lichttherapie, Speedu hat es am Anfang unseres Gespräches angeschnitten. Ich hatte mich nicht getraut nachzufragen. «Ein wissenschaftlich anerkanntes Verfahren zur Behandlung von Depressionen» spiegelt mir mein Telefon, als ich aus dem Gemeinschaftsbüro wieder auf die Postgasshalde austrete. Und es empfängt mich ein lauer Windstoss vom Aareufer her – es riecht nach Tang und geschnittenem Gras – der erste Sommerabend seit Jahren.

Inwiefern Speedus Selbständigkeit und sein Angebot als ambulanter Wundmanager unter gegebenen politischen Voraussetzungen weitergehen wird, bleibt unklar. Trotzdem ist er unter www.epithelia.ch zu erreichen und freut sich über jede solidarische Bekundung.