Die Dramaturgie übernehmen

An manchen Tagen schwappt der Living Room im Breitsch bis aufs Trottoir über, dass man meinen könnte, das Tiefbauamt hätte es nur dafür so breit gemacht. An der Moserstrasse 30 nimmt und bietet ein zurzeit zwölfköpfiges Kollektiv Platz, um über Rassismus und andere Ausgrenzungen zu sprechen, über Kunst und Widerstand. Wie es sich für ein Wohnzimmer gehört, einen Lebens-Raum als lebenden Raum, passiert dort viel und alles gleichzeitig. «Es geht darum, verschiedene Perspektiven zu teilen», sagt Nicolle Bussien, die Teil des Kollektivs ist.

Unerzählte Geschichten, Wissensaustausch, Gespräch, Ruhe, Vernetzung und Organisation – dafür haben Nicolle, Alain Leite Stampfli, Dragana Draca, Izabel Barros, Rohit Jain, Malana Rogers-Bursen, Mardoché Kabengele, Marianne Naeff, Mo Wa Baile, Said Adrus und Timo Righetti bislang acht Formate geschaffen. Was sie verbindet: Sie befolgen eigene Regeln, schaffen eigene Strukturen und Kategorien.

Mit der Möglichkeit, die eigenen Regeln einzufordern oder sich zu verweigern, kehrt das Kollektiv ein altes Mächteverhältnis um. «Wir werden zwar immer wieder zu Podien eingeladen, aber es sind häufig unbefriedigende Erlebnisse für uns», sagt Mo Wa Baile. «Es wird viel geredet und danach wenig gemacht.» Zum einen passiere sie selten, die anschliessende fruchtbare Diskussion. Zum anderen sei nur ein kleiner Teil des Geldes, das die Institutionen für die Veranstaltung angefragt hätten, letztlich zu ihnen gelangt. Entstanden ist der Living Room so auch aus dem Wunsch nach einem Ort, an dem sie nicht Gäste auf Einladung, sondern Veranstalter:innen sein konnten. «So bestimmen wir, mit wem und wie wir Gespräche führen wollen.» Ein überdimensionaler Filzfinken mit Edelweiss-Stickerei hält in seinem Bauch Pantoffeln für die Gäste bereit. «Für mich ist der Living Room ein Zuhause», sagt Timo.

Und wenn man schon einmal alles darf, dann gerne mit Provokation: Die Rechtsabteilung im Living Archive, der Bibilothek, heisst Scharia. «Eigentlich heisst «Scharia» einfach «Gesetz»», sagt Mo. Ist die Katalogisierung abgeschlossen, soll es allen möglich sein, Bücher auszuleihen. Name und Handynummer reichen, an Ausweise sollen andere glauben.

Mittwochs lädt die «Diaspora University» ein, auf dem Programm darf von Film-Screenings über Grillfest alles stehen, Hauptsache mit Diskussion. Dabei werden verschiedene Gruppen der diasporischen Community angesprochen und eingebunden, mit dem Ziel, Wissen, Erfahrungen und Perspektiven zu teilen. Dienstags trifft sich eine Gruppe geflüchteter Menschen; freitags wird der Living Room zum Anticafé. Ohne Konsumzwang kann dort gearbeitet oder gelesen werden, das Wohnzimmer ist offen für Gespräche und Vernetzung. Eine weitere Essenz des Widerstands ist seine Dokumentation. Dieser widmet sich das Atelier D’ici, das von Personen aus dem Kollektiv und Mitgliedern der Community geführt wird. Sie führen Interviews, dokumentieren die Arbeit im Living Room und schreiben so ihre Geschichte selbst. «Das festzuhalten ist wichtig – sonst muss man immer wieder vorne anfangen», sagt Mo, «ich schätze die Arbeit, die von früheren Generationen geleistet wurde.»
Abgesehen von einem Tag in der Woche ist der Raum offen für alle. «An den Safe Space Sundays kann er von marginalisierten Gruppen gratis reserviert werden und ist während dieser Zeit nur für sie zugänglich», sagt Mo. Aktivist:innen aus LGBTIQ*- und BPoC-Communities soll es in diesem Rahmen möglich gemacht werden, sich an einem gewaltfreien Ort zu treffen, sich auszutauschen und zu vernetzen, kollektive Kraft zu schöpfen, Strategien auszutauschen oder sich zu erholen.

Ein gutes Beispiel, wie der Living Room funktionieren kann, gibt Mos Theaterstück «Wer hat Angst vorm weissen Mann?», das im November im Schlachthaus aufgeführt wird. Die Besetzung der all-Black-Crew fand er grossenteils durch sein erweitertes Wohnzimmer an der Moserstrasse. «An einem Freitag sass ich im Anticafé und sah eine Person, die neugierig durchs Fenster hineinschaute. Ich bat sie herein, sie entpuppte sich als Regieassistentin bei Bühnen Bern – nun wird sie in meinem Stück die Dramaturgie übernehmen.»

Mo ist überzeugt, dass Veränderung am schnellsten geht, wenn sie von innen kommt: «Das ist produktiver, als gegen aussen zu kämpfen.» Der Umgang miteinander, die Art, Probleme zu lösen, die Gemeinschaft – «Der Living Room repräsentiert, was ich mir von aussen erträume.»

Weitere Informationen unter www.living-room.website – Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Maiausgabe des KSB Kulturmagazins.