Die grosszügig geschnittene Essiggurke

Jedes Konzert anhören gehen, das wäre das einzige. Ich will das Grosse Ohr werden und darin verschwinden, offen für alles, was auf oder vor der Bühne gezündet wird an Versuchen und (Selbst)überlistungs-Petarden. Lese Text von zB Hebeisen für die Tamediazeitung: der tut ja auch so, als hätte er zuerst alles gesehen, um dann auktorial auswählen zu können, was wichtig war — dabei muss ich doch auf dem Toitoi einschlafen, verstohlen ein verliebtes Gespräch führen oder mich im finstersten Corner der Redbull-Cocktailbar verstecken von Gottweisswas. Hebeisen sicher auch, aber er gibt es nicht zu. Ich klebe am Haus fest, sitze auf seiner Terrasse Beulen in die Bretter oder Dellen in die Dielen — choose your favourite Sprachtrick und weiter gehts, die Dinge zu verpassen. Drift hat einen schönen Preis und auch muss ich essen: Das beste Essensangebot gibts hinter mir, an der Bar im Haus, drei Sorten Zopfsandwich, Schinken, Salami oder Käse. Dann muss ich eine ganze Sandwichlänge sprechen von der Qualität des Sandwichs, angefangen bei der Kälte (direkt aus dem Kühlschrank), durch die die Zähne beinah schmerzen beim Reinbeissen, wie bei einer Glace, die sehr grosszügig geschnittene Essiggurke frisch bis zum letzten Bissen, weiter die Dicke des Brots und jene der aufgestrichenen Senfbutter, man kann das in fünf Minuten essen oder weniger und davon fünf oder gar acht Stunden leben. Man kann eines mit ins Bett nehmen und es am Morgen darauf glücklich verspeisen, während die Nachbarn Reggae-Remixes aller Rockhits der 1970er bis heute durchhören und die netten Nachbarn Kaffee machen. Das Sandwich, das ich als Kind in der Pause gern gehabt hätte, eingepackt in Klarsichtfolie. «Dä ühüere Lärm überall!», auf der Terrasse vor dem Club schon am Donnerstag. Der Wallisser hält sich den Kopf zwischen den Händen, während er sich schwitzend einer Jeanskutte entledigt, auf dem Aufnäher steht RAGE!. Die Destabilisierung grassiert. Die Destabilisierung könnte Programm sein: «Ich finds geil so laut, alle Festplatten müssen gelöscht werden, scheiss auf Wurzeln und leg dich auf den nackten Boden», sagt eine Person in synthetischer Schlangenlederhaut. Im Haus fühlt es sich anders an als an allen anderen Tagen jahrüber, kleiner, heisser, verwinkelter, die Schwelle ist nie zu sehen, man muss immer stolpern und fallen oder sich in der Ecke auf eine Bank drängen, sich Luft zufächeln, Coca-Cola bestellen, das Fenster anschwitzen, es lässt sich nicht öffnen (wäre aber eine gute Idee). Dafür ist da der Sims, ich kann mich daran abstützen und wie Rentner:innen in Bümpliz die Schnauze über den Balkonrand in den Betrieb der Aussenwelt halten, über den Sims kann ich auch klettern, an den Bartischen und Leuten vorbei, durch den Rahmen hindurch, mich auf einem Klotz platzieren, dort sitze ich wie ein Kind und lasse die Beine baumeln. Woran festhalten wenn umgepflügt wird? Vor dem Haus eine Kirche mit Geläut aufbauen, das wahre Leiden des Glöckners erfahrbar machen (es war nicht der Buckel – es war das Gebimmel) — oder ist jeder Glockenschlag ein Verweis auf die ohnehin feststehende Zeit, immer fünf vor Zwölf – auf dem Fleck, da hört man alle Musik des Platzes gleichzeitig, dä ühüere Lärm von überall, die Zeltbühne, den Soundcheck auf der Hauptbühne, das Radio 3Fach, das Haus, die Kirche und alles Gerede, man riecht auch die Klos und die Schweissschwaden und schliesslich die Holzschnitzel, bis es klingt und vielleicht das wird, was es eigentlich ist. Lieber hier bleiben, wo ich alles verstehen kann. Niemand entkommt der unmittelbaren Nähe. Forfait. Distanz von Vorsatz und Delivery: maximal. Alles gehört, alles verpasst.

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