Die Identität ist der Fussballclub der Seele

Jetzt, wo die Masken fallen, was passiert wohl mit all den armen Tierchen, die in den letzten beiden Jahren eine neues – oder wahrscheinlich überhaupt zum ersten Mal – kollektives Ich erfahren haben. Die müssen verknallt sein, laufen mit der rosaroten Brille auf der Strasse hinter Neonazis; die Liebe ist voller Versäumnisse.

Es ist Mittwochabend, 21:00 Uhr, drei Stunden, bevor die Zertifikatspflicht aufgehoben wird. Ich begebe mich zu Bit-Tuner, Molekühl und Arthur Hnatek in den Dachstock, Konzertabend. Zertifikate werden am Eingang noch brav geprüft.

«Päpstlicher als der Papst, und das hier in der Reitschule.»

Bärbeissiges Gemunkel und Mienen werden verzogen – und auch ich frage mich ehrlich gesagt, ist das jetzt wirklich noch nötig? Oder hat man über die Zeit einen Narren am Kontrollieren gefressen, biederes Staatsdienertum, oder sogar: jede Dokumentenprüfung als Mikrodose Voyeur-Kick im Namen der Korrektheit?

Im Dachstock schenkt mir ein lieber Freund aus Deutschland, der in Bern die Jazzschule gemacht hat und immer mal wieder auf Besuch ist, ein Ticket von einem Fussballspiel; der wunderbaren Affiche wegen: BSG Chemie Leipzig vs. ZFC Meuselwitz, Regionalliga Nordost. «Ist Null zu Null ausgegangen, war ein legendärer Grottenkick, saugeil.» Zuhause gucke ich mir die Tabelle dieser Liga an, die Clubs heissen alle so. BFC Dynamo, Energie Cottbus, Carl Zeiss Jena, Optik Rathenow. Ein Poetikum der Arbeiterklasse? Perlen einer einst intakten, urproletarischen Harmoniesphäre?

Nicht so einfach – Firmenfussball hatte immer auch die Funktion, Belegschaften identitär zu binden. Die Gewerkschaften nannten das auch Fehlidentifikation oder Entfremdung vom Klassenbewusstsein. Weil es das Commitment der Arbeiter*innen für ihre Buden steigerte. (In der DDR war das dann eine etwas andere Kiste.) Aber mit wem oder was identifiziert man sich und woher kommt das Brot und woher die Spiele? Und Identität, könnte man somit sagen, ist der Fussballclub der Seele.

«Auf Erden ein Zelt», das war für Augustino von Hippo, den Kirchenvater, die Kirche. Für den Staat ist es die Institution und für den Kapitalisten die Firma, der Name, die Marke. Um die Willenskraft der Massen («Arbeitnehmer*innen») zu kanalisieren, zu ordnen – damit nicht alles im Chaos ende. Arnold Gehlen, der mürbe Sack, Soziologe und konservativer Gegenspieler Adornos einst, sah das so: «Der Mensch kann sich und seinesgleichen ein dauerndes Verhältnis nur indirekt festhalten, er muss sich auf einem Umweg, sich entäussernd, wiederfinden, und da liegen die Institutionen.» Es ist die verzapft formulierte Einsicht, dass man den Menschen limitieren muss. Weil er sonst ins Unergründliche stürzt, verloren ohne Halt und Gott – er braucht Demut. Scheissdreck. Den Menschen als nicht souverän anzuerkennen, als verletzlich und abhängig, beschränkt – unbedingt (und ohne Gott zur Demut, die zu erlangende Königsklasse).

Aber das führt gerade nicht notwendigerweise dazu, institutionelle Macht, also eine übergeordnete Gewalt, zu legitimieren. Es bedeutet schlicht, dass wir einsehen, wie sehr wir für unser körperliches und geistiges Wohl auf Anerkennung und Sorge anderer Menschen angewiesen sind. Gewalt im gesellschaftlich beglaubigten Massstab ist ein Angriff auf diese fundamentalen Bindungen (J. Butler). Da sind wir alle gleich – aber nicht gleich wahrgenommen. Wie vielen Individuen wird die Wahrnehmung als menschliche Wesen durch solche Gewalt verwehrt, haben die Freiheit und Zeit nicht zur Identitätsfindung – weil sie dadurch krank, arm und ungebildet gemacht werden und bleiben? Und wenn ich über diese nichtwahrgenommenen Wesen nachdenke, habe ich sie nicht bereits einer weiteren Gewalt unterworfen – einer Denkschublade, wie solche Wesen auszusehen haben, denen durch Gewalt das Sprechen und die Sichtbarkeit verwehrt bleibt (G.C. Spivak)?

Eine Spirale der Hegemonie, wir können nicht über Positionen nachdenken, ohne diese (mindestens teilweise) zu objektivieren und somit unterzuordenen. Über «die Anderen» spekulieren, das setzt uns als den Souverän voraus.

Sich über die Identifizierung von Gruppen zu mokieren – die Schnödereien gegenüber eines basisdemokratischen Kollektivs, dass bis drei Stunden vor der Aufhebung der Massnahmen am Eingang ihres Konzertlokals noch Polizist*in spielt, beispielsweise (oder sich vielleicht abfällig über den «Geltungsdrang» gewisser Minderheiten zu äussern, oder eben auch das Reduzieren einer heterogenen Zusammenrottung von demonstrierenden Menschen auf ihre eindeutigste Diskreditierung: dass da Nazis an der Spitze laufen) – solches Verhalten lässt also vor allem einen Rückschluss darüber zu, wie durchdringend in unserer liberalen Gesellschaft das Selbstverständnis als Souverän nahezu jedes sprechende Individuum vereinnahmt. Und wie frivol dabei andere bewertet werden, ohne das eigene Sprachrohr und dessen Schall auf seine Notwendigkeiten hin zu untersuchen – eine gefestigte Identität und ganz viel Narrenfreiheit.

Und das nervt.