Das läuft routiniert aus dem Ruder, zwischen acht und zwölf Säcke voll mit Dosen, Büchsen, Flaschen, Gläsern, wuchern in der dunkelsten Ecke der Küche – alle paar Wochen. Aber eben: Wir nehmen es leicht. Und wer A sagt, muss auch B sagen, sagen die Leute. Zum Trinken gehört der Kater und zum Kater gehört der Abfall, man muss das ganzheitlich betrachten. Wir gehen entsorgen.
Die Plastiksäcke sind voll mit Farben, Gold auf Saturnrot beim Anker, heftiges Ultramarin vom Gralsburg Export, edelmatte Weiss, wir trinken Budweiser, Stella Artois und Boxer, Denner Lager-Dosen fast erdbeerfarben, Tell, 1291, ein bisschen Geschichte. Eine Flasche Rum, ein bisschen Seefahrt und Lust auf Kolonialismus. Der Grappa, il bel paese. Braune, blaue, grüne Flaschen blitzen dazwischen und spielen Freie Improvisation, wenn die Wundertüten in Bewegung kommen. Schön, dass in den Einmachgläsern da und dort sogar ein junges Leben erwacht.
Wir tragen die Taschen die Treppe runter, so leise, wie es geht, Michelina vom Coiffeursalon sieht uns freundlich und streng dabei zu, che casino, denkt sie, Schöne!, sagt sie. Wir leihen uns drei Einkaufswagen bei der Migros und schütteln das Leergut durch die Stadt, die Musik braust auf bei Tramschienen und auf dem Bsetzistein, tempo rubato, während alle, die gerade nichts zu tun haben, sich am Umzug erfreuen dürfen, zum Beispiel drei untersetzte Polizisten, die das Bundeshaus beschützen müssen – unserem Glück macht das nichts, gar nichts.
Am Hirschengraben haben wir uns bald der Sorgen entledigt. Auf einen letzten Refrain, im Ritornello gluckst nochmal die Lebensfreude auf, alles darf in Scherben gehen und ein neuer Zyklus nimmt Anlauf. Wir gehen, festlich gestimmt und mit leeren Säcken, ins nächste Bistro und trinken Milchkaffee.
Die Piazza Bar ist dieses nächste Café, so will es Entsorgung & Recycling Stadt Bern. Die Piazza Bar ist auch das wahrscheinlichste Café der Welt: Immer so, als wäre es gerade erfunden worden, als hätte eine künstliche Intelligenz sich durch den Katalog der Einrichtungsmode bestellt, Zierblumen in Ginflaschen, ein Symbolbild von Kaffeebohnen an der Wand – ist es Airbrush oder Fotografie? In der Piazza Bar sind alle distanziert freundlich und im Hintergrund sorgt ein Produkt zwischen Acid Jazz, Triphop und Slow House für eine beschwingt-schläfrige Atmosphäre. Und genausowenig, wie der Hirschengraben eine Piazza ist, hat die Piazza Bar irgendeine distinktive Qualität. Das ist erfreulich. An diesem Tresen ist noch niemand eingeschlafen, an den Tischchen ist noch keine Freundschaft zerbrochen. Die Toilette ist zum Schiffen da. Keine alte Zeit hängt von der Decke und keine Nostalgie vertrübt den Moment.
Eigentlich. Und doch hat dieser Ort, es wäre unfein zu verschweigen, einen Platz in meinem Herz. Das kam so wegen der Herrenbröter aus Meikirch. Die Herrenbröter waren die berühmteste Band am Gymnasium, etwa drei Jahre älter als wir, die wir ihnen an jedem Konzert zustaunten. Sie verstanden sich als zeittypische Gymnasiastenband auf nachdenklichen Reggae und Funk mit Rapeinlagen. Und sie hatten einen Steadygig in der Piazza, einmal im Monat, aber was ist damals Zeit. Vier Buben im Saft: Simon, Gitarre und Gesang, verschmitzter Songschreiber und Schwarm, Clemens, der jetzt Jazz kann und eine eigene Gesangsnummer hatte, «Sunset» oder so, Kilian, zuständig fürs Tanzen und Rap auf Berndeutsch. Nicht vergessen Bundi, der Schriftsteller, talentlos und charismatisch am Bass, wertvoll vor allem zwischen den Songs und nach dem Konzert.
Bundi manchmal auch am Gesang. Piazza Bar, 2009.
Wir immer da. D. und ich, ein Gebinde Dosenbier unter dem Arm, vorab rasch eins reinkiffen unten im Monbijou, Para vor dem Securitasmann und die ersten Songs verpassen. Dann einfädeln in die volle Piazza Bar, die Bröter spielen den «Futon Reggae» oder ähnlich, mehrstimmiger Gesang zum Refrain, unangenehm helles Licht bescheint unsere rosaroten Wachsgesichter. Wir suchen nicht die Anonymität. Schauen, wer da ist, aus der Klasse oder Para, immer verliebt in T., aber immer andere Buben neben ihr, einer aus dem Neufeld – bekifft denkt man viel und redet wenig. Wer A sagt, müsste auch B sagen. Dann letzter Bus, morgen Mathprobe: Stochastik.
Fragt sich heute, wann das angefangen hat mit der Auslagerung von Identität. Die einen finden sie mit Ende zwanzig in einem guten Stuhl oder in einer siebbedruckten Buttel Wein, die andern im Bodensatz eines Billigbiers. In der Piazza Bar fehlt das alles. Damals und heute ist sie einfach ein Ort, eine Hülle, die wir auffüllen – oder auch nicht. Diese Leere fühlt sich plötzlich an wie die grosse Freiheit, nichts aussagen zu müssen. Die Mächtigkeit der leeren Menge. Ein nüchternes Diktum, das auf der Zunge zergeht, wo alles wertvoll zu sein hat. Doch die Musik im Hintergrund meint nichts, das Herz im Cappuccino meint nichts. Es ist ein Glück: Wo alles zum Zeichen wird und sich polar auflädt, ist die Null eine tolle Erfindung. Nicht A sagen, noch B.