Die Petrischale der Ermächtigung

«I’ve been forced to take off the rose-colored glasses and face the awful truth about how grim my life really is as a woman», schrieb Carol Hanisch vor rund fünfzig Jahren und meinte es so. Im gleichen Atemzug setzte sie einen Satz in die Welt, der so berühmt werden sollte, dass er den Rest des Essays sowie sie selbst in den Schatten stellte: Das Private ist politisch. Und da das Leben als «Frau» noch immer düster ist, die politischen Verhältnisse noch immer vor der Sonne stehen, hat die Kampagne «Offensiv gegen Feminizide» (OGF) einen Versuch gestartet. Was als Warnsystem vor Polizeikontrollen schon länger etabliert ist, wurde ausgeweitet, denn die Polizei ist für viele Menschen nicht die einzige Bedrohung. OGF eröffnete einen Telegram-Chat für Personen, die von patriarchaler Gewalt betroffen sind, die, die es als erste spüren, wenn das Politische sich ins Private drängt. In Notfällen und unangenehmen Situationen können die Mitglieder dort andere TINFLA und Queers um Unterstützung bitten. Ein mobiles Awareness-Team gewissermassen, das aus einzelnen viele werden lässt, oder auch einfach ein Gefäss für das, was sonst im Privaten aufgefangen wird. «Es geht um Selbstermächtigung», sagen Lou* und Nuk* von OGF. «Wir können und wollen uns nicht auf die staatlichen Institutionen stützen.» Stattdessen sucht OGF nach anderen Antworten auf patriarchale Gewalt. «Wir wollen alternative
Formen von Sicherheit ausprobieren.»

Die Versuchsanordnung: Via Einladungslink treten möglichst viele TINFLA-Personen und Queers aus dem Raum Bern der Telegram-Gruppe bei. Dort warnen sie einander vor unangenehmen oder potenziell gefährlichen Situationen im öffentlichen Raum. Zudem kann um physische Unterstützung gebeten werden. Zurzeit sind rund 500 Menschen im Chat. «Wir wünschen uns, dass wir einander im Chat und mit kollektiven Handlungen das Gefühl vermitteln können, nicht vereinzelt zu sein», sagt Lou, und vielleicht ist es auch Carol Hanisch, die aus ihr spricht: «Women are smart not to struggle alone (as are blacks and workers)». Denn oft reicht der simple Trick, in der Überzahl zu sein, um anderen die Vereinnahmung eines Raums zu verwehren. «Der Chat baut darauf auf, dass alle Mitglieder des Chats nach Möglichkeit vor Ort gehen», steht im Gruppenbeschrieb. Natürlich kann dieses Format keine Versprechungen machen. Anhand von Rückmeldungen von Gruppenmitgliedern schliessen Nuk und Lou aber darauf, dass der Alarm-Chat aktiv wahrgenommen wird und Reaktionen auslöst. Dass er bei den meisten Nutzer:innen nicht das Schicksal anderer Chats teilt, die täglich von unzähligen Nachrichten überflutet werden und stummgeschaltet darauf warten, durchgescrollt oder gelöscht zu werden, liegt auf der Hand: Es geht schliesslich um mehr, als spontan eine:n Tichuspieler:in zu finden oder eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern.

Seitdem der Chat im Juni eröffnet wurde, sei es noch nicht dazu gekommen, dass eine Person um die Anwesenheit der anderen Chatmitglieder gebeten hat. Bisher wurden lediglich Warnungen, die keinen direkten Handlungsaufruf beinhalteten, gepostet.

Dass es entmutigend oder lähmend sein kann, wenn das grössere Ausmass von patriarchaler Gewalt plötzlich sichtbar wird, aufgelistet und dokumentiert in einem Telegram-Chat, ist den Gruppen-Admins bewusst. «Die Warnungen sollen nicht Ängste schüren oder Personen dazu zu bringen, einen Ort zu meiden», betont Nuk. «Auch wenn niemand zu Hilfe kommen muss, kann die Information für andere hilfreich sein. So können sie sich auf ein Szenario einstellen und bereits im Vorfeld nach Handlungsmöglichkeiten suchen.»

Es gebe auch kritische Stimmen, die grundsätzlich fragten – denkt ihr wirklich, das funktioniert? Es ist dem Format geschuldet, dass vieles unkontrollierbar bleibt: ob und wer auftaucht, wie diese Personen in der Situation reagieren, ob den Wünschen der betroffenen Person Rechnung getragen werden kann. «Der Alarmchat ist kein Safe Space, das kann er nicht leisten.» Können, müssen also alle Zweifel aus dem Weg geräumt werden, damit eine neue Strategie «funktioniert»? Oder darf auch einfach mal erprobt werden? Ermächtigung bedeutet auch: einen Versuch zu wagen.

Mir fliessen Geschichten zu, vielleicht etwas ausgeschmückte, manchmal abenteuerliche. Wie viel davon wahr ist, lässt sich nicht sagen, zu viele Ohren und Münder waren am Erzählen beteiligt. Es ist im Grunde egal: Sie zeigen, dass der Telegram-Chat nicht der einzige Versuch ist, sich vor patriarchaler Gewalt zu schützen. Ich höre von einem Awareness-Telefon in Basel, von einer Gruppe TINFLA die vor einer Weile in Bern in grossen Gruppen in Clubs gingen und pöbelnde Männer zurück anpöbelten. Das Kapitel wurde geclaimt und in Barcelona kommen violette, als Schlüsselanhänger getarnte Schlagringe mit Stacheln unter Laser-Cuttern hervor. T. meint sich zu erinnern, dass vor zehn Jahren Kampfkünstler:innen auf dem Berner Bahnhofsplatz gestanden und Menschen sicher nach Hause begleitet hätten. Samurai-Krieger sollen das gewesen sein, und Gewänder hätten sie getragen, sagt M. Dass sie lange Stöcke bei sich hatten, da sind sie sich einig.

*Namen geändert.

Trans-, inter-, nonbinäre-, agender, queere Personen, Lesben und Frauen, die dem Chat beitreten oder bei «Offensiv gegen Feminizide» aktiv werden wollen, können sich an niunamenos@immerda.ch wenden. www.ocf-ogf.ch

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Novemberausgabe des KSB Kulturmagazins.