H. G. Wells hatte noch keine Ahnung vom philosphischen Verwirrspiel, das eine Zeitmaschine notwendigerweise mit sich bringt (siehe Back to the Future), für ihn diente sie eigentlich bloss als erzählerischer Trick. Science Fiction brauchte damals noch eine gewissermassen technische Rechtfertigung: Warum über eine ferne Zukunft schreiben, wenn sie sowieso unerreichbar weit weg und insofern eine Phantasmagorie ist? Eine erzählerische Sinnlosigkeit also. Dann kommt Wells mit seinem Helden, der tatsächlich um das Jahr 1900 herum eine Maschine konstruiert, die nicht nur durch die drei Raumdimensionen, sondern auch noch durch die vierte, gerade eben von den Physikern postulierte, fahren kann. So wird der ganz im (damaligen) Jetzt verwurzelte Held eben selbst in diese Zukunftsallegorie hineingerissen, die Wells erzählen möchte. Den Hebel nach vorn gedrückt – schon geht es ab ins Abenteuer. Dass die Zukunft einfach ein Anderland darstellt, das sich für die Fiktion genauso eignet wie ferne Länder oder unentdeckte Inseln, musste die Weltliteratur erst noch herausfinden im 20. Jahrhundert. Wells› Zeitmaschine war auf jeden Fall ein Wegbereiter.
Man kennt die Geschichte vielleicht: Ein paar hunderttausend Jahre in der Zukunft hat sich die Menschheit nicht zu einer perfekten Gesellschaft weiterentwickelt, sie zeigt stattdessen ihr wahres Gesicht, ihre brutale, urmenschliche Fratze – allerdings erst, wenn man genau hinschaut. Da sind zunächst die friedlichen, harmlos-kindlichen Eloi, die in einem grünen Paradies leben, das ganz gut als Degrowth- und Back-to-nature-Utopie durchgehen könnte. Aber irgendwas ist faul in dieser Zukunft, das merkt der Zeitreisende schnell: gesellschaftlich, ökonomisch, politisch. Irgendwann entdeckt er dann auch noch die Morlocks, im Untergrund: eine degenerierte, bestialische Arbeiterklasse. In dieser Zukunft gibt es kein friedliches Zusammenleben, es gibt nur noch sprichwörtliches Fressen und Gefressenwerden.
Viel toller als die ganze politisch grundierte Parabel um das Jahr 800’000 herum ist allerdings die dramatische letzte Flucht vor den Morlocks, als der Held den Zeithebel in die falsche Richtung drückt und nicht zurück in seine Heimatzeit davonkommt, sondern noch viel weiter in Zukunft geworfen wird und eine «Vision» hat, wie es in der Kapitelüberschrift heisst.
Der Wechsel von Tag und Nacht wurde immer langsamer, und ebenso der Weg der Sonne über den Himmel; schließlich schien sich beides durch Jahrhunderte zu erstrecken. Zuletzt brütete ein stetiges Zwielicht über der Erde, ein nur hin und wieder von einem Kometen, der über den dunklen Himmel schoß, unterbrochenes Zwielicht. Der Lichtreif, der die Sonne angedeutet hatte, war längst verschwunden; denn die Sonne ging nicht mehr unter – sie stieg und fiel nur noch im Westen und wurde immer breiter und röter. Jede Spur des Mondes war verschwunden. Das Kreisen der Sterne wurde immer langsamer: sie waren kriechende Lichtpunkte geworden.
Es ist die endgültige Abkehr vom Fortschrittsdenken: Die Erde dreht sich nicht mehr, die Sonne ist «eine riesige Wölbung, die eine dumpfe Hitze ausstrahlte und hin und wieder sogar momentan verlosch». Die Welt steckt im ewigen Zwielicht fest, das Meer liegt flach, fast ohne Bewegung. Und was an Leben geblieben ist, taugt höchstens noch als Parodie auf die Evolution: etwas wie ein riesiger weisser, schreiender Schmetterling und monströse krebsartige Geschöpfe. Wer es vorher noch nicht bemerkt hat, hier wird es endgültig klar: Das Desaster ist kein böser Zwischenfall im doch eigentlich positiven Geschehen, die Zukunft selbst ist das Unheil. Und wir steuern unaufhaltsam darauf zu.
Können Sie sich einen Krebs vorstellen, so groß wie den Tisch da, der sich mit seinen vielen Beinen langsam und unsicher bewegt, dessen große Scheren schwanken, dessen lange Fühler wie Fuhrmannspeitschen schwingen und tasten, und dessen Stielaugen Sie auf beiden Seiten seiner metallischen Stirn anglühen? Der Rücken war runzlig und mit häßlichen Buckeln verziert, und eine grünliche Inkrustation fleckte ihn hier und da.
Das ist alles, was von der Krone der Schöpfung bleibt. Zuerst fährt der verzweifelte Held noch ein Stück weiter in die Zukunft, aber besser wird’s da nicht mehr, im Gegenteil. Da macht er sich dann doch gern wieder auf, zurück in das Gestern, das zumindest für uns halt eben doch noch besser war.