«Wir müssen reden» – der Offene Brief hat Aufwind. Ein guter Teil der Theaterschaffenden sowie das institutionelle Nachtleben der Stadt haben in den vergangenen Tagen in dieser Form ihre Anliegen dargelegt. Mit Aussicht auf wichtige Diskussionen um eine progressive Corona-Kulturpolitik möchten wir deshalb fragen: Was ist das eigentlich, ein Offener Brief?
Wir können veranstalten.
Wir wollen veranstalten!
Dampfzentrale und Schlachthaus Bern an die Öffentlichkeit
Wir sitzen alle im selben Boot.
ISC, Kapitel, Bierhübeli, Dachstock im Namen der Bar- und Clubkommission zuhanden des «Bund»-Journalisten Carlo Senn
Wie alles, was ältere und altgebliebene Menschen bis heute gegen das Morgenland o. die Jugend zu verteidigen haben, nahm auch die Tradition des Offenen Briefes ihren Anfang in der Antike. Bevor ein gewisser Isokrates 338 v.Chr. aus dem Leben schied, per Brotjob ein zunächst eher mässig angesehener Gerichtsschreiber mit schwachem Redner-Stimmlein, brachte er es sprichwörtlich bis zur Haustür des Makedonischen Königshofs, wo er um die Gunst des baldigen Hegemons Philipp II. warb. Wie ist ihm das gelungen?
Der Offene Brief ist eine rhetorische Angelegenheit mit doppelter Adressierung. Es gilt, möglichst geschickt, zwei verschiedene Rezipientinnen zu verführen: Den formal Adressierten genauso wie die zum Mitlesen aufgeforderte Öffentlichkeit. Für einen gelungenen rhetorischen Schuss aus der Handpistole ist es für die Verfasser*innen deshalb wichtig, die eigene Position in der Gesellschaft zu reflektieren und sich die Machtverhältnisse zwischen Adressat, Adressant und Publikum zu vergegenwärtigen. In der schön frivolen Welt der Schusswaffen verbleibend: Damit die Kugel nicht nach hinten losgeht. Oder noch schlimmer, gar nicht erst zündet.
Isokrates machte das ganz gut. Er betonte vor dem ungleich höher gestellten Makedonischen König seinen Rang als gewichtigen Vertreter der Athener Intelligenz. Und er tat dies humorvoll-kokett, indem er auf die Kürze und Unvollständigkeit seiner Rede und auf sein fortgeschrittenes Alter hinwies (Isokrates, da ein Greis von neunzig Jahren.) Man muss sich vorstellen, wie am Königshaus eine 155 Absätze schwere, gelehrte Papyrusrolle mit dieser Entschuldigung zu Boden geht. Buff.
Der Humor ist ein guter Freund, wenn es auf die Verhandlung von Machtverhältnissen ankommt. In den Spielarten der Ironie, der Übertreibung, des Sarkasmus oder der Koketterie ist das Humorvolle in über zweitausend Jahren ein steter Begleiter erfolgreicher Offener Briefe – was immer das heissen mag. Denn: Nicht selten kam die dicke Post ihren Absender, gerade als unmittelbare politische Folge, am teuersten zu stehen. Émile Zola hat 1898 das wohl berühmteste Exemplar auf Seite 1 einer Pariser Zeitung geschrieben und damit einen Staatsskandal verursacht. Dem Dichter drohten ein Jahr Gefängnis, er ist nach England abgehauen und wurde schliesslich begnadigt. Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Martin Luther, Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Theodor Adorno und Günter Grass – die Liste ist sehr lang (und ein schändlicher Männerbund).
Die Anziehungskraft des Offenen Briefs bis heute geht auch von ihrer provokativen und selbstermächtigenden Dreistheit aus. Das Wagnis, sich den herrschenden Zuständen entgegenzusetzen, spricht von Stolz und Haltung, Attitude und der gepflegten Anmassung, eine strukturelle Unterlegenheit mindestens ideell überwinden können. In diesem Schusswinkel nach oben hat der Offene Brief durchaus auch subversives Potential.
In den Bühnenstücken, die wir zeigen wollen, geht es ums Heute, um unser aktuelles Zusammenleben. Schauspieler*innen und Tänzer*innen bringen Gefühle und Überlegungen zum Ausdruck, die uns betreffen. Artefakte gehen uns an – sie lenken uns ab von aktuellen Sorgen oder helfen, aus Sackgassen des Denkens herauszufinden. (…) Kunst ist ein notwendiges Elixier zum Leben und Überleben.
Im Offenen Brief der Theaterleute blitzt die Behauptung auf, dass die Kunst mehr kann als funktionieren – und deshalb jetzt so bitter fehlt. Bevor gleich der Bundesrat eingeschaltet wird und vielleicht auf längere Zeit alles zu schliessen hat, vielleicht ein unheimlicher Winterschlaf unsere Köpfe befällt, könnten wir uns deshalb fragen:
Wer sind wir als Kunst- und Kulturschaffende? Worum kreisen unsere Potentiale der Subversion? Was ist unsere unverkäufliche Position in der Gesellschaft? Wollen wir jeden journalistischen Kleinkrieg eingehen? Und wollen wir um jeden Franken Ersatzleistung in der Sprache der Wirtschaftsverbände betteln – sind wir so müde und bequem und bereit für die Demütigung, unsere Anliegen als «systemrelevant» und unsere Arbeit als «Wirtschaftszweig» zu verkaufen? Haben wir eine Haltung – oder nur die hohle Hand?