Eiger, Mönch und Jungfrau mit Flachdach

Und überall diese stoischen Fussballplätze, auf denen niemand Fussball spielt. Reine Raumverschwendung findet Markus Jakob. Der längst ausgeflogene Autor spaziert für den Architekturband «bern modern» durch seine Vaterstadt – und schnell wird klar, dass wir es hier mit einer komplizierten, alten Beziehung zu tun haben. Ein erster Seufzer entfährt dem Spaziergänger bereits am Bollwerk, «jeder Berner weiss, dass dies kein froher Ort ist». Entlang weiterer städtebaulich verkeilter Traurigkeiten auf der Schützenmatte und am nördlichen Kopf der Lorrainebrücke («Mülltonnen und Parkplätze») landen wir im ehemaligen Arbeiterquartier, dem eigentlichen Ausgangspunkt von Jakobs Mission: Im Visier hat er die Architektur der 1920er- und 30er-Jahre im Geist des Neuen Bauens. Die klare Linie, Bauhaus-Idealismen, Licht und Luft. Und er hat, im Verbund mit Herausgeber und Architekt Ralph Gentner, auch eine These.

Die sanfte Berner Moderne – so werden die Bauwerke dieser mythischen Epoche denn lieblich geheissen und damit nicht nur aufeinander bezogen, sondern auch gegen ihre oft kühneren und berühmteren Verwandten in den Metropolen verteidigt. Jakobs Blick gilt dabei nur im Vorbeigang den wenigen ikonischen Repräsentationsbauten, die den radikalen Modernismus auf städtischem Boden durchaus stattfinden lassen – Hans Weissens Meer-Haus (1929), Salvisberg und Brechbühls Suva-Haus (1932), zuletzt Hans Brechbühlers fliegende Gewerbeschule (1939) – Kern dieser behaupteten Berner Spielart der Zwischenkriegs-Moderne ist eine Auswahl von dreiunddreissig Wohnbauten, von Solitären und grösseren Überbauungen. Im Überblick, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

So geht das einmal zu Fuss durch die kleine Stadt. Vom alten Dürrenmatt ist überliefert, dass er die Trambahn gemieden hat in seiner Berner Zeit, die Stadt sei für derlei Schienenverkehr schlicht zu klein geraten. Ähnlich miesgelaunt gibt sich auch Jakob in seinen Quartierbeschreibungen, die ihn von der Lorraine durch die äusseren Stadtbezirke wandeln lässt, auf der Suche nach den versteckten Schönheiten. Die dabei gestreiften Banalitäten, Nullorte und Missgriffe dazwischen sind besonders lustig zu lesen, Renzo Pianos angeblich zunächst für eine Tankstelle entworfene Museumskonstruktion («eine Schande für die Stadt»), die verkehrsberuhigten Strassen, die Leere der Plätze, sie kommen dem dandyistischen Jakob ebenso in die Schusslinie wie die kurzerhand zum Zen-Urbanismus verklärten Rasenplatz-Wiedergänger.

«Was weiss ich, woran es liegt, dass in der Schweiz nicht dieselbe Mentalität herrscht wie im Süden», wieso die Strassen nicht gleich brummen wie in Barcelona oder Belgrad, entgegnet Doktor Dieter Schnell, der Denkmalpfleger. Er ist, nebst den Fotografen Scheidegger und Telley, die Jakobs Streifzüge kühl und treffsicher mit der Kamera begleiten, die dritte zentrale Stimme in diesem Buch. Und der theoretische Gegenspieler zum Journalisten Jakob, für dessen Thesen und Provinzialitäts-Lamenti er bisweilen wenig übrig hat. Die im Buch vorgeschlagene Mechanik, zwei Jahrzehnte als geschlossenes Goldenes Zeitalter der Moderne zu fassen, problematisiert er schon zu Beginn der Lektüre, in deren Fortgang sich ein genüssliches Streiten um Stil und Bedingungen und die kunsthistorischen Grenzziehungen auffächert. Hier der flamboyante Weltbürger Jakob, da der Forscher Schnell, der mit dem einen oder anderen Mythos aufzuräumen hat. Es ist eine grosse Freude schon nur deshalb, weil die Ambivalenz ausgehalten und im geschickt gesetzten Kontrapunkt die Mehrdimensionalität jeder vernünftigen Kunstheorie mitgedacht wird, ohne die Lust am Zuspitzen und Behaupten aufzugeben oder die eigene These in den Wind zu schlagen.

Eben diese «sanfte Berner Moderne»? Ein hübscher Einfall. Vielleicht hat sich in der Behäbigkeit der industriell zurückgebliebenen Stadt wirklich eine mondäne Zurückhaltung ausgeprägt, die erst als diese gelesen werden musste: Ein Bern, weich abgerundet gegen die Hyperdynamik der Grossstadt. Auf jeden Fall beschert uns der Band einen sympathischen Überblick nicht nur über die veranschlagten Erzeugnisse des Neuen Bauens, er nimmt auch die Architektur des ausgehenden 19. und spätgründerzeitlichen 20. Jahrhunderts mit, verteidigt am Rand sogar die von Jakob so verhassten Nachkriegs-Überbauungen und spricht schliesslich immer irgendwie – und das ist wohl das Allerbernischste daran –  in Anwaltschaft der Underdogs.

Innerhalb des intellektuellen Fetischs Zwischenkriegsarchitektur kümmert sich «bern modern» um die vergessenen Stücke statt um die Ikonen, um die in Obstberg, Kirchenfeld, Mattenhof, Monbijou, Länggasse und Bern-West versenkten, in der föderalistisch-unverbindlichen Stadtplanung verborgenen Findlinge jener europäischen Auf- und Abbruchszeit. Diese hat nicht nur die grossen Bauhäusler produziert, sie zu Weltruhm und vielleicht der hybrischen Entgrenzung von den eigenen sozialen Idealen verführt. Die Moderne ist eben auch und gerade in Bern eine Sache von Underdogs geblieben, von aus dem Kanon gefallenen, nie lexikalisch gewordenen. Von Peter Meyer, dem vergessenen Kritiker, von dessen feinen Qualitäten wir lesen und dem ewigen Schattendasein im internationalen Moderne-Diskurs, vom vielbeschäftigen Architekten Hans Weiss, als biografischer Gegenentwurf zum sturen Modernismus hat er zuletzt die Altstadt renoviert, vom Büro Scherler & Berger, das die Länggasse gegen die Stadt gebeugt hat mit seinen jedem Berner Kind bekannten Haller-Häusern, «Eiger, Mönch und Jungfrau, aber mit Flachdach» – alle um ein Haar vergessen, hätte sie dieses feine Buch nicht lustvoll wieder aus der Mottenkiste vorgeholt.

«bern modern» im Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich. Herausgegeben von Ralph Gentner und Markus Jakob. Beiträge von Markus Jakob, Ulrich Loock, Yorick Ringeisen und Dieter Schnell, mit Fotografien von Thomas Telley und Adrian Scheidegger.

Bilder: «Murtenstrasse 3 – 7» sowie «Schillingstrasse 28», beide © Thomas Telley und Adrian Scheidegger.