Ein Kaugummi für den Schmerz

Jede Produktion ein Ventil für geballte Energie: Zu Besuch
am Belluard Bollwerk in Fribourg, wo die Erlösung zum Schluss ausbleibt.

Als wir uns freitagnachts aus dem Bollwerk schleichen, tobt auf der Bühne eine irre Gameshow im gleissenden Neonlicht. Eine Frau hustet das Nesquik-Pulver, das sie sich über den Kopf schüttet, zwei andere ertrinken in einem Mittelmeer aus Seifenschaum und der ältere, weisse Mann, der zuvor aus dem Publikum auf die Bühne geführt wurde, sitzt etwas verloren auf einem Sofa und starrt mit eingefrorenem Grinsen geradeaus. Die Zuschauer:innen sind hell erleuchtet und wissen nicht recht, wie und was ihnen geschieht – aber von vorne.

An der 39. Ausgabe des Belluard Bollwerk, Festival für zeitgenössische darstellende Kunst in Fribourg, gehts um das grosse Brodeln. Festivalleiterin Laurence Wagner habe das in sich und der ganzen Welt so fest gespürt, dass es als Stoff für ein ganzes Festivalprogramm gereicht habe, erklärt Mediensprecherin Emma Isolini. Das Belluard ist in diesem Sommer ein Gefäss für geballte Energie, mit jeder Produktion wird ein kleines Ventil geöffnet und dem Publikum portionenweise Feuer, Magma oder heisse Luft an den Kopf geschleudert. Alles steht im Zeichen der Vulkanmetapher: seiner Kraft, der geschaffenen Verbindung von Welt und Kosmos – und der fruchtbaren Erde nach der Katastrophe.

Lost in Translation

Um vom Bahnhof ans Belluard zu gelangen, zwängen wir uns durch ein anderes Fest mit Essen, Bier und Kommerz und ich bin froh, dass ich während des Berner Stadtfests in den Ferien war. Dass die Zelte in der Fribourger Altstadt dem Theaterfestival Konkurrenz bezüglich billigem Essen machen, merken wir erst, als wir unse­re hübschen Teller an der Belluard-Bar im Festivalzentrum bezahlen. Die erste Performance, die wir uns an diesem Abend anschauen, findet auf der Freilicht-Bühne «Fortunée des Remparts» statt, unten an den Stadtmauern. Kulisse sind silberne Luft­gefässe – die edlere Version der Hüpfburg von vorhin neben dem Crêpes-Stand.

Die Performance des jungen Genfer Duos «Cie Pluton» fühlt sich ein bisschen an, als würde man einen Trickfilm schauen und dazu das Hörspiel derselben Geschichte abspielen. Die erzählte Handlung zieht sich durch das Stück wie ein Stahlseil, ich muss mich sehr auf den Text konzentrieren, weil fast alles auf Französisch ist und nichts übertitelt wird. Kurz werde ich von den grinsenden Kindern abgelenkt, die über die Brüstung linsen, als sich einer der Protagonist:innen auszieht. Es gibt ausserdem ein Schubkarrenradio und ein Lied übers Knutschen mit Schmetterlingen und alles ist so herzig, dass ich am liebsten hinspringen und ihnen das Seilbähnli entwirren möchte, das dauernd verknotet. Als sich die Schauspieler:innen in ihre kleinen Handpuppen-Alter-Egos verwandeln, sitze ich leider zu weit hinten, um etwas zu sehen. Irgendwann macht die Story keinen Sinn mehr, kein Brodeln ausserdem weit und breit. Liegts vielleicht auch an meinem schlechten Französisch? Lost in Translation – erfährt man zum Schluss eigentlich, was Bill Murray Scarlett Johansson ins Ohr flüstert?

In der finalen Szene fliegen die beiden Handpuppen-Figuren Béatrix und Milla
ins Weltall, der Vibrator-Unfall vom Anfang der Geschichte wird dann auch noch mit einer Tischbombe und einem Sextoy demonstriert. Die beiden Künstler:innen Alice Oechslin und Ulysse Berdat haben als Cie Pluton den ersten Platz des diesjährigen Premio-Wettbewerbs zur Förderung von jungen Tanz- und Theaterkompanien gewonnen; die Kreation heute haben sie sich extra fürs Belluard ausgedacht. Schliesslich ist fertig und alle im Publikum lächeln und klatschen; ich auch. Es fühlt sich an wie das Aufwachen nach einem Traum, den ich lustig fand, mich aber nicht berührte – es bleibt davon nichts übrig. Wir holen uns etwas zu trinken im Foyer. Das Festivalzentrum ist voller Menschen, in der Mitte steht ein gebastelter Vulkan, der eigentlich glühen sollte, jetzt aber keinen Strom mehr hat. Vielleicht nur vorübergehend.

Verschnaufen geht nicht

Um 22 Uhr stellen wir uns in die lange Schlange vor dem alten Bollwerk für das Stück der Performerin, Autorin und Regisseurin Rébecca Chaillon aus Frankreich. Es ist die Performance, auf die auch Laurence Wagner in Interviews immer wieder zu sprechen kommt – ein Herzstück des Festivals. Die Performance sei so spät angesetzt, weil das Stück die Dunkelheit brauche. Aus Lautsprechern warnt uns ei­ne Stimme vor Strobo und eventuell verstörendem Inhalt und erklärt, dass wir uns anschliessend an der Bar austauschen können, falls es Bedarf gebe. Wir setzen uns in die mittelalterliche Festung unter die uralten Holzbalken ins Dunkle. Die Bühne liegt am offenen Ende des Halbkreises unter freiem Himmel; wir sitzen in der pittoresken
Kulisse, die Schauspieler:innen haben die Turmmauer im Rücken.

Die gesamte erste Stunde wird nicht gesprochen, sondern geputzt. Chaillons immer nackter werdender, weiss bemalter Körper rutscht wie der durchnässte Putzlappen in Javelwasser über den Bühnenboden. Als sie nicht mehr kann, wird sie selbst gewaschen; mit derselben technischen Gleichgültigkeit. Meinem Begleiter kommt das bekannt vor, weil er eine Weile als Pfleger gearbeitet hat. Aber natürlich ist das nicht dasselbe, weil hier auf der Bühne weisse Farbe mit Putzmittel von diesem grossen, Schwarzen Frauenkörper gewaschen wird und die Person erst ungefähr beim vierten meterlangen Zopf, den man ihr an den Kopf knotet, eine Stimme kriegt, um rassistische Annoncen aus einem Magazin vorzulesen. Chaillon schart für dieses Stück eine Gruppe von neun weiblich gelesenen POCs um sich, verflicht ihre Geschichten, Gefühle, Stimmen, Körper und Perspektiven zu einem einzigen grossen, atmenden Viech – sie zwingt das Publikum, hinzuschauen und sich mit den persönlichen und kollektiven blinden Flecken auseinanderzusetzen. Der Titel des Stücks «Carte Noire nomée Désir» lehnt sich bei der Werbung einer französischen Kaffee-Marke an, die das Getränk mit Schwarzen Körpern vergleicht. «Try to remember when life was so tender» singt im Stück eine Performerin, während sie mit Melasse übergossen wird, eine andere wird später fast in Milch ertränkt. Als alle im Chor George Clooney nachahmen, lacht das Publikum, ich habe das dringende Bedürfnis nach einem Kaugummi für meinen schalen Espresso-Atem. Das gesamte Stück über ist der Wechsel von übergriffigen und stereotypisierenden Bildern in liebevolle Momente und wieder zurück so unberechenbar, dass Verschnaufen nicht geht. Mindestens drei Viertel des Publikums ist weiss, ich auch, und sicher die Hälfte davon männlich. Den Jahrhunderte alte Schmerz, Instrumentalisierung, Missbrauch und Exotisierung nachzuerleben, geht nicht, aber weh macht das
Zuschauen trotzdem.

Erlösung, Auflösung oder Empowerment verpassen wir, wir müssen auf den letzten Zug. So stolpern wir mitten in einem abstrusen, interaktiven Ratespiel unter Rufen der Zuschauer:innen aus dem Bollwerk und durch die besoffene Menge neben der Hüpfburg an den Bahnhof, um den letzten Zug nach Bern zu erwischen. Wir bringen es nicht mehr auf die Reihe, die einzelnen Geschichten und Gedanken chronologisch aufzuzählen. Wir sind irgendwo hängengeblieben – im grellen Licht mitten in der Explosion.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Augustausgabe des KSB Kulturmagazins.