Eventuelle Lichtbögen aus Toastern

5500 Arten wachsen im Botanischen Garten. Die Zierbanane, das Grossblätterige Löwenrohr oder die Senegalesische Dattelpalme überwintern als Kübelpflanzen in der Orangerie. Ein stilles Nebeneinander auf engstem Raum ist das hier; und Eleganz bis zum kleinsten Kraut, in Beeten teilweise kaum grösser als auf einer Jasskarte. Häutete man aber den Mammutbaum, es liesse sich mit der Fläche seiner Borke ein kleines Münster verhüllen.

Gibt es eigentlich so etwas wie positive kognitive Dissonanzen?

«Der Botanische Garten – der perfekte Ort für das Les Digitales», sagt Mich Moser, genannt Mo, seit zehn Jahren Mitorganisator dieses Festivals, einem Mikrokosmos für elektronische und experimentelle Musik. Das Konzept sieht eine halbe Stunde pro Künstler*in vor; einen Bogen zu spannen, ihn zu brechen, oder gar nicht erst in die Finger zu nehmen – Carte Blanche. Das Publikum liegt traditionellerweise schief auf bereitgestellten Liegestühlen, geschaukelt von der Dynamik der Programmation. Das Festival natürlich ist selbst ein organisches Gewächs.

«Dieses Jahr sehen wir von einer Ausführung ab, irgendwie fühlt sich das nicht gut an mit den Restriktionen und trotz BUCK-App. Les Digitales steht für atmosphärische Gesundheit, die möchte ich, zumindest in Bern, nicht riskiert wissen.»

Das erste Les Digitales fand 2005 in Lausanne statt und hat seither in dreizehn verschiedenen Schweizer Städten von Porrentruy bis Zürich autochthonen Ausdruck gefunden, den lokalen Anstrich der jeweiligen Kurationskollektive. Rhizome, die über einen Mail-Loop vernetzt bleiben, ein sektionalisiertes Festival, aber von formalem Zusammenhang.

In der Aussage von Mo klingt ein aktuelles Problem von Veranstalter*innen an, das vor allem in der freien Szene seine Verhandlung findet. Kann man unter den gegebenen Umständen den eigenen Ansprüchen gerecht werden – gerade auch gastgeberischen? Und macht das überhaupt noch Spass so?

Das Les Digitales auf der Betonterrasse unter dem Mammutbaum des Botanischen Gartens ist immer auch ein Fest der Nahbarkeit. Und Realallegorie der Zusammenkunft von Spezis und Normalos in einer Kleinstadt: Da ist einerseits die Nerd- und Heavymetalfraktion, die sich so ganz erst nach der ersten Noise-Wand aus ihrem sonst kellerhabituellen Halbzustand rematerialisiert und somit in ihrer vollen Unwucht wahrnehmbar wird – gezwungenermassen auf Tuchfühlung mit Oberflächenphänomenen wie Sommerkleidchen, Sandaletten und föhnfrisierten Gecken andererseits. Letztere sind ihrerseits meist eher an den flächigen Synthesizer-Sets als dem Lärm und dem avantgardistisch-exotischen Gestus des ganzen Zirkus interessiert. Und natürlich am Gesehenwerden, wobei erstere lieber verschanzt blieben, wenigstens von Kapuzenpullovern.

Gegen die wechselseitigen Vorurteile hilft der Anstand – nichts ist länger haltbar als gute Manieren und so ist das eine sehr schweizerische Zärtlichkeit, die da blüht. Hunger haben sowieso alle irgendwann. Und weil der Naschmarkt am Les Digitales aus Überzeugung auf viel hausgemachte Sauce und von Pakora, Gemüse oder Schweinshaxe zum Platzen gefüllten Brötchen setzt, ist der Jackson Pollock in vorgelehnter Sitzposition zwischen den wahlweise lackierten oder abgefallenen Zehennägeln – gefolgt von gegenseitigem Fingerschlecken – genauso Programm wie eventuelle Lichtbögen aus Toastern oder Stromschienen. August ist schliesslich Gewittermonat, Regen muss abfliessen und unter der Zeltblache soll man zusammenrücken.

Sicherheitsabstand ist das ungnädigste Wort im Duden.

«Ich habe einfach meine Bedenken geäussert», sagt Mo, «ich finde es aber auch okay, dass die in Biel und Freiburg durchziehen. Uns in Bern hat die momentane Situation aber die Lust geraubt, und ohne die sollte man nichts anfassen. Zumal wir einen Teil des vorgesehenen Line-Ups in den Herbst und Winter und in einen ganz neuen Kontext verschieben können: Die Acts werden im Rahmen von einzelnen Veranstaltungen im Buffet Nord auftreten.»

Im Botanischen Garten wachsen 5499 Arten weiter.

Das Les Digitales in Biel findet am 5. September statt, in Fribourg am 12. und 13. September. Die Daten für die Veranstaltungen im Buffet Nord zum Vormerken: 1. Oktober, 5. November, 3. Dezember und 7. Januar.