Exit to your left

Nach Raum drei haben sie genug gesehen: «Wo gehts denn hier bitte zu den klassischen Bildern?», die Aufsicht schickt zwei Männer nach oben und dann rechts – zum Ausgang der Ausstellung.

Kunst als Waffe oder Kunst als Werkzeug, als Werkzeug für eine utopische Idee. «Tools for Utopia» nennt Kuratorin Marta Dziewańska das, die Ausstellung im Kunstmuseum zeigt Werke aus Uruguay, Argentinien, Venezuela, Brasilien und weiteren lateinamerikanischen Ländern, Fokus 1950er bis 1970er Jahre. Eine Zeit der Diktatoren und Militärregierungen also, der Gewalt, der Einschüchterung und des Widerstands – und darüber hinaus, bis ins Heute.

Die Utopie selber als Werkzeug zu verstehen und nicht als fernes Ziel, sie als kritisches Potential zur Veränderung wahrzunehmen, das ist eine Grundhaltung, auf die diese Ausstellung baut; die Kuratorin bezieht sich auf Ernst Bloch und damit auf die Vorstellung, gegensätzlich erscheinende Kategorien wie «vorher» und «nachher» transzendieren zu wollen. Die Utopie also nicht als Unerreichbarkeit, sondern als ständiger Teil auch unserer heutigen Welt, oder sagen wir: die Utopie als Salamitaktik.

… so war die Sprache der Kunst unbestreitbar ein Werkzeug, das Gemeinschaften in die Lage versetzte, kollektiv mit traumatischen Erfahrungen umzugehen.

So heisst es im Ausstellungsprospekt: ein wohltuender Gegenentwurf zum gerade so verbreiteten, individualistisch geprägten Therapie-Gerede. Alle graben in ihren Kindheiten, alle verarbeiten ihre Schäden, alle suchen sich nach fehlerhaften Mustern ab – und so wichtig das ist, weil es nämlich gut ist, wenn es einem deswegen besser geht, so sehr wird es zum Problem, wenn es eben alle für sich und nur für sich tun.

Die ungewöhnlich erfolgreiche Selbsthilfeindustrie wurde vor dem Hintergrund der tiefverwurzelten Überzeugung möglich, dass unser Elend haargenau unserer psychischen Entwicklung entspricht, dass Sprechen und Selbsterkenntnis heilsam sind und dass die Bestimmung der Muster und Ursachen unserer Leiden uns dabei hilft, diese zu überwinden. Die Qualen der Liebe verweisen jetzt nur noch auf das Selbst, auf seine private Geschichte und seine Fähigkeit, sich selbst zu gestalten.

Das schreibt die israelische Soziologin Eva Illouz in «Warum Liebe weh tut», mittlerweile irgendwie auch eine Art Ratgeber-Bestseller, nur eben mit einer dringend nötigen Verortung in der Gesellschaft. «You can do it if you really want» – neoliberale Scheisse und im Therapiekontext nur zu gerne reproduziert – wie kommen wir da nur wieder raus? Illouz derweil nennt als möglichen Ausweg die Soziologie:

War es Ende des 19. Jahrhunderts radikal zu behaupten, Armut sei nicht das Resultat von Charakterschwäche oder zweifelhafter Moral, sondern die Folge systematischer ökonomischer Ausbeutung, so müssen wir heute geltend machen, dass unsere privaten Niederlagen nicht nur unseren schwachen Psychen zuzuschreiben sind.

Wir klopfen unsere Vergangenheit nach Traumata ab und unsere Gegenwart nach Triggerpunkten, aber was ist mit unserer Zukunft? Laut der Ausstellung ist es die Kunst, die Antworten geben kann, eben Werkzeug sein, gemeinsam daran zu basteln. Das Saalblatt versammelt Künstler*innenmanifeste und Texte aus den Vierzigern und Fünfzigern – die Kunst ist darin als radikal kollektives Projekt gefasst: «Gegen eine Kunst, die die Unterschiede stärkt. Für eine Kunst die aus ihrer eigenen Sphäre heraus der neuen Gemeinschaftlichkeit dient, die in der Welt aufgebaut werden soll.» 1946, Inventionistisches Manifest – natürlich geprägt von den kaum verdauten Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, und jetzt: (naive) Hoffnung, Elan, Aufbruchstimmung. Und weiter: «Ein Gedicht oder Gemälde soll nicht dazu dienen, den Verzicht auf Handlung zu rechtfertigen, sondern im Gegenteil daran mitwirken, den Menschen in die Welt zu bringen.»

«Der Begriff ‹Gruppe› ist in unserer Zeit ein Begriff, der Verdacht erregt», schrieb Mário Pedrosa knapp zehn Jahre später über die «Grupo Frente», der er ebenfalls angehörig war, zur ersten Gruppenausstellung in Rio de Janeiro. Das ist keine Feststellung, es ist ein Angriff: Du bist nicht allein – als Kampfansage. In einer Zeit des Taumelns das Gemeinsame zu verlieren, ist genauso gefährlich, wie die eigenen Geister in den Keller zu verbannen – vielleicht sogar gefährlicher. Was das in der künstlerischen Auseinandersetzung heissen kann, welche Fragen das aufwirft, erzählen die unterschiedlichen Positionen in den oberen Räumen der Ausstellung.

Zum Beispiel: Wo schauen wir hin? Die Fotoserien von Paz Errázuriz zeigen geistig Behinderte, Uralte, Drag Queens – woanders werden die Tattoos von Gefängnisinsassen gezeigt oder Betroffene von häuslicher Gewalt; in einem Video eine Mutter, die ihr Kind verloren hat. Der freundliche, zugewandte Blick kann einem vor Brutalität nicht immer schützen, als Mittel auch bewusst gewählt, wie in diesem Video in Endlosschleife und auf Grossleinwand, in dem eine junge nackte Frau mit einem Wasserschlauch abgespritzt wird. Sie schreit, es hört einfach nicht auf.

Das ist alles sehr eindrücklich, gut gemacht auch – doch kristallisiert sich da oben auch das Problem der Ausstellung, und zwar am Saaltext: Hier werden die Aussenseiter*innen zu Objekten des Widerstands, die «die Weigerung, den Anforderungen unserer (turbo)kapitalistischen Systeme an immerwährende Produktivität nachzukommen» verkörpern würden. «Tools for Utopia»: Alles muss ein Werkzeug sein, also auch die zu Opfern stilisierten Aussenseiter*innen, jedes Kunstwerk in diesem Raum und am Ende auch die Künstler*innen. Wäre dem «(turbo)kapitalistischen System» (das im Übrigen, komplett ahistorisch, als überall gleich und gleichmässig funktionierend angenommen wird) als Gegenentwurf nicht auch Ziellosigkeit entgegenzusetzen? Muss denn immer alles irgendetwas nützen? Nicht nur die Position der Aussenseiterin, sondern auch die Kunst an sich wird hier instrumentalisiert, eingepasst in eine Theorie – statt diese oft so starken Werke für sich selbst sprechen zu lassen.

Hinschauen oder nicht? Die Frau schreit weiter, ich steh da und will mich dazu zwingen, ich schaffe nicht einmal eine Schleife am Stück. Sonst ist auch niemand hier – da treten aufs Mal zwei in den Raum ein, den Ausgang haben sie noch immer nicht gefunden. «Jaja», sagt einer und greift seinen Begleiter nervös am Arm, zieht ihn an der schreienden Frau vorbei, «komm, wir gehen.» Ich muss lachen. Und auch mal raus hier.

«Tools for Utopia» ist noch bis zum 21. März im Kunstmuseum Bern zu sehen. Die Bilder zeigen die Werke «To the Police» von Antonio Dias, 1968 sowie «Evelyn I» von Paz Errázuriz, 1987, (Courtesy: Daros Latinamerica Collection, Zürich).