Nichts Heiliges am Sailing Stones Festival in Nordtunesien. Von Leim, Schweiss – und wie das Konzert zum Ort der Austragung wird.
Würden auf dem Mond Artischocken wachsen: Lass uns einen Film erfinden auf Arabisch, Französisch und ein bisschen Deutsch, Sci-Fi, Mafia, Idealismus, wir fahren mit dem Schiff rüber nach fucking Cannes und der Soundtrack spielt sich ja von selbst – es ist Montagnacht auf Hammas Farm, in den Feldern um Kalâat el-Andalous. Der Wind hat endlich aufgegeben und bald schon kommt der Sommer. Sitzen sie um den Poolbillardtisch im engsten Kreis, das weisse Licht schlägt hinter aufgeklebten Stuckaturen vor. Die letzten Kugeln knallen auf den Boden. Ein letztes Mal besieht man die Gesichter: Batal, hat vier Tage nicht geschlafen, aber alles geregelt, was es zu regeln galt und Nadia erzählt von der Revolution 2010. Ab sagt, er habe gerade seinen Job bei einer grossen Telekommunikationsfirma verloren, «nur weil ich übers Wochenende das Handy ausgeschaltet hatte». La merde: Statt für die «Arbeitgeberin» auf Distanz verfügbar zu sein, hat er die Stromgeneratoren für das Festival betreut. Der grosse Kummer bleibt ausgesperrt – und der teure Haschisch wird aufgeraucht wie die letzten 5-Dinar-Schachteln Zigaretten, sie heissen Saphir, Crystal, Mars und ein unglückliches Grüpplein, zum Bierholen ausgesandt, bleibt irgendwo zwischen den Artischocken im Schlamm stecken.
Einige dutzend Kilometer westlich dieser Farm, an der Küste zwischen der Hafenstadt Bizerte und Kef Abhed, liegt die dritte Ausgabe des internationalen Musikfestivals Sailing Stones im Sand begraben. Während zwei Tagen und Nächten wurde hier Musik, Performance und Kunst behauptet. Angereist kamen Künstler:innen aus Tunis, Frankreich, Portugal, dem Libanon, der Schweiz, eingeladen vom Organisationsteam aus Tunesien, Paris und der Schweiz, auf Spesen von Mutter Pro Helvetia – das Vernetzungstreffen will gefördert sein. Anreisen mit der Kunst im Kopf, als Behauptung gegen das Wetter zum Beispiel: Denn beinahe hätte ein Sturm das Anliegen inklusive Bungalow-Siedlung ganz zerzaust, kurz vor Festivalbeginn, als die im Freien aufgebaute Bühne aus ihrer Versenkung ausriss und sich unheilvoll vom Boden absetzte. Wenn aber Steine schwimmen können oder mindestens wandern und wenn die Bretter davonfliegen, gilt hier der Spass erst richtig ernst.
Baustelle rückwärts
Also finden die Konzerte kurzerhand in der Bauruine statt, vorne am Meer, wo vor nicht langer Zeit mal, hört man sagen, ein Strandrestaurant von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. Mit dem Interieur, dem Boden, den Türen, den Fenstern und ein bisschen Dach. Und da steht jetzt Masha Zoëtrop aus Tunis hinter ihrem Laptop und kratzt dunkel schattierte Experimentalelektronik und Bassmusik von der Festplatte. Die Festivaleröffnung ist einer ihrer ersten Auftritte überhaupt, auf einer Bühne ohne Kommentarfunktion. Eigentlich hat sie schon abgesagt, wegen der vielen Selbstzweifel und ist schliesslich doch gekommen. Das ist auch Pyrit zu verdanken, der Festivalfee, die sich im Vorfeld und während der Programmtage um die Künstler:innensorgen kümmert, sie in ihren Rückzugsorten in den Strandhütten besucht, ihnen zuflüstert, hinter der Bühne kauert, zwischen Technik und Auftretenden vermittelt. Immer wieder wird das Programm umgestellt. Der Wind ändert seine Richtung ständig, aber die Musik läuft durch: von siebzehn Uhr bis acht.
Im Konzertgemäuer, wo es nach Schweiss duftet, nach Leim stinkt, wo das Stroboskop immer flackern muss und wo als Kunstprojekt Fresszettel von der tiefen Decke hängen: An der Bühnenkante hat sich ein Klüngel Tunis-Jugend mit aufgerissenen Augen und geilen Kleidern versammelt, Lieblingsdroge Lösungsmittel: «Es ist das Billigste hier», erklärt mir später Batal, «alle werfen ein paar Münzen rein, einer holt im Laden den Kanister, derweil wird ein T-Shirt zerrissen.» Die Fetzen werden in die Flüssigkeit getunkt, die Gedanken für ein paar Sekunden zerstreut. Und der Soundtrack spielt sich ja von selbst: Meist hart undoder düster, Glitchcore, Hardcore, Industrial, Noise, Emo, Metal – auch Demolition Unit aus der Hauptstadt machen, wie sie heissen, sie denken die Baustelle rückwärts, schreien die Monitore fast kaputt und werfen sich all-in ins Publikum. Die Kunst im Kopf als Behauptung: Auch gegen maghrebinische Folkloren, gegen Selbst- und Fremdzuspitzungen? Das tunesisch-nationale und arabisch-muslimische, all das Heimelige und Heilige, gilt der jungen von den Revolutionswirren geprägten Generation Künstler:innen aus der tunesischen Hauptstadt als verdächtig – vermehrt, seit im Nachgang von 2010 auch der politische Islamismus auf dem Vormarsch ist. Als mir beim Verabschieden und der Bekundung, dass man sich einmal wiedersehen sollte, ein schlecht intoniertes «inschallah» über die Lippen gegangen ist, folgte gleich die Quittung: «Ich bin nicht religiös.»
Du sollst dich offenbaren
Die Vorliebe für den kompromisslosen musikalischen Ausdruck kennt die Musikerin Nâr, die im Libanon lebt, auch aus ihrer Heimatstadt: «Weisst du, wie Beirut klingt? Es gibt täglich etwa während zwei Stunden Strom. Überall rackern Generatoren, bläst es aus Schächten und pfeift es aus Röhren. Und erst der Verkehr» – Industrial und Noise sind so nichts weniger als die natürlichste Musik dieser Umgebung, wo die grosse Explosion in den Hafenanlagen der Stadt von 2020 noch immer nachzuhallen scheint. «Auch wenn es manchmal hart ist, körperlich anstrengend, sich das eine Nacht lang reinzuziehen. Aber das muss jetzt einfach durchexorziert werden.» In Tunis, kleiner und weniger kosmopolitisch, gibt es solche «Exorzismen» kaum. Oder nur im privaten Versteck. Öffentliche Orte der Zusammenkunft mit experimentierlustiger Tonspur fehlen weitgehend, Instrumente und Zubehör sind darüberhinaus nur schwer zu haben. Und was im Ausland aufgetrieben werden kann an Zeug und Kabeln, es bleibt rasch in den Hangars des Tuniser Hafenzolls zurück, «dem vielleicht grössten Familienunternehmen der Stadt», wie manche behaupten. So entsteht hier die meiste Musik am Computer und gelangt über das Internet in die Welt. Auf direkten Kanälen, die aber immer auch eine Verfestigung des musikalischen Ausdrucks voraussetzen. Und vielleicht deswegen nach dem Binären streben, Hardcore oder dann Ambient, nach dem Soundcloud-Hashtag und der Zugehörigkeit zur globalvernetzten Genre-Nische.
Aber: Ballern macht auch Spass, keine Lust auf Kompromisse. Dass dahinter nebst Produktionsbedingungen auch eine Eigenart der tunesischen Streitkultur zum Vorschein kommen könnte – zum Beispiel irgendwann nach Mitternacht am Freitag. Der angereiste Pariser mit Namen Violent Quand On Aime hat mit technischen Problemen zu kämpfen. Nach kurzer Leidenszeit schmeisst er verschüchtert den Bettel hin. Was andernorts vielleicht noch schulterzuckend oder still-schnödend zur Kenntnis genommen würde, gilt hier nicht. Eine steigt kurzerhand auf die Bühne und faucht den armen Tropf an, bis er sich aufrafft und weiterspielt. Derweil purzeln die Leimkinder über die Bühnenkante und machen sich Spässe. Niemand ist nachtragend: Als der Pariser in der Not einfach sein DJ-Set ablässt, scheint die Sache schon wieder vergessen und verdunstet. Gerade weil er in Tunesien ein Kostbares ist, wird der Konzertraum zum Ort der Austragung. «Die Leute wollen, dass du dich zeigst. Egal wie komisch du bist, du sollst dich offenbaren», sagt Pyrit.
Dann kann zum Schluss auch das Hinterletzte noch passieren. Weil es muss, hat es Platz. Etwa, wenn man kopfüber in den Zaubertrank gefallen ist: Einer, vor ein paar Tagen aus La Chaux-de-Fonds angekommen, hat während des Festivals in seinem Bungalow ein kleines Tonstudio eingerichet, Jams angeleitet und die entstandenen Stücklein auf Kassetten gebannt. Am späten Sonntagnachmittag, als der verdammte Wind langsam nachgibt und die meisten Festivaliers mit ihren Karrossen bereits abgezogen sind, steht er krumm auf dem Balkon seiner Hütte. Muss eine Stunde lang ins Mikrofon schreien und jauchzen, ohrenbetäubend, desaströs und glücklich. Es ist vielleicht die überhaupt legitimste Reaktion auf all das.
Demolition Unit und Caged Bastard aus Tunis spielen am 16. August in der Bar Regula in Bern. Mehr Informationen zum Sailing Stones Festival gibts zum Beispiel auf Instagram @sailingstonesfest. Der Autor dieses Textes hat mit seiner Band ebenfalls am Festival gespielt und wehrt sich gegen den Vorwurf der Befangenheit nicht.
Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Juniausgabe des KSB Kulturmagazins.