Gedanken in und zu sonderbaren Zeiten. Ein Gastbeitrag von Andrea Kaiser.
Tag 2 des Lockdowns: Ich beginne zuhause Alkohol zu trinken (was ich früher nie gemacht habe). Aber vielleicht hat das ja auch etwas Gutes und ich werde endlich Alkoholiker; da Fusel überall erwerblich ist, würde das Leben einfacher und die utopischen Sehnsüchte würden verdrängt, die mich heute plagen.
*
Tag 3 des Lockdowns: Um der drohenden Vereinsamung zu entgehen, muss man sich nur zu beschäftigen wissen! Habe angefangen, alle Möbel und Einrichtungsgegenstände von Haus und Garage alphabetisch zu sortieren. Etwas Kopfzerbrechen machten mir die sechs schweren Büchergestelle, die sich dummerweise im Erdgeschoss befinden und jetzt in den dritten Stock rauf sollten, zwischen Badewanne und Chrysanthemen. Aber in meiner Gerissenheit habe ich die Büchergestelle kurzerhand in «Regale für Bücher» umbenannt! So brauche ich sie nur noch hinter den Rasenmäher zu schieben, hihi.
Nachtrag: Aufgrund der Immobilität gewisser Objekte musste ich den Boiler in Zoiler und die Kaminklappe in Aminklappe umtaufen. Ich betrachte mein Experiment als gescheitert.
*
Tag 4 des Lockdowns: Trotz vollstem Vertrauen in die Notstandsmassnahmen unserer Regierung, die mittels Einkerkerung aller Bürger in Isolationshaft dafür sorgt, dass ein paar 80-Jährige nicht heute an Corona, sondern erst nächsten Winter an einer herkömmlichen Grippe zugrunde gehen, und trotz allgemeiner Zuversicht überkommt mich manchmal ein leises Gefühl von Einsamkeit. Daher habe ich gestern Nacht begonnen, in einer Ecke meines Wohnzimmers meine Stammkneipe nachzubauen.
Unbeschwert ging ich daran, die in solchen Etablissements unvermeidlichen Stammgäste zu gestalten. Als Material boten sich dank enormem Lagerbestand Klopapierrollen an, die mit Packschnur zusammengehalten werden; so können die charakteristischen Fläz- und Lümmelstellungen mühelos nachgebildet werden, zudem lassen sich leicht Gesichtszüge mit Filzstift anmalen. Nun kann ich mich jederzeit mit einer Flasche Bier an den Stammtisch setzen und meine Feierlaune ausleben. Nur gerade redselig sind die Pappkameraden leider nicht.
*
Tag 5 des Lockdowns: Um das Ambiente meiner Modellkneipe möglichst wirklichkeitsnah zu halten, galt in dieser Wohnzimmerecke natürlich auch ein Rauchverbot. Das hat mir den Aufenthalt vergällt und ich habe das Projekt fallengelassen.
Was fange ich mit den Klopapierkumpel an? Wäre irgendwie schade, die wieder auseinanderzunehmen. Ich muss mal schauen, ob der Onlinehandel für Bikinis und Lippenstift noch funktioniert.
*
Tag 6 des Lockdowns: Jemand im Quartier verteilt Flugblätter in die Briefkästen. «Wenn sich Häuserzeilen abschotten und den Mitbewohnern den Kontakt zu Aussenstehenden verbieten, braucht man sich über die Flüchtlingssituation in der Welt nicht mehr zu wundern!» Gezeichnet: Corona Conquistadores.
Nichts weiter, nur das. Word, Tahoma 12 auf achtziggrämmigem Kopierpapier, sagt mir mein innerer Dr. Watson. Ob diese Flugschrift Zusammenhang hat mit meinem Innenhofgegenüber, der normalweise nur als mürrischer Eigenbrötler auffällt, aber gestern Nacht von seinem Balkon aus in die leere Nacht hinausschrie: «Wissen diese Flüchtlinge eigentlich, dass wir hier Corona haben!» Das ist Defätismus, wir müssen jetzt solidarisch sein! (Wobei jemand kürzlich behauptet hat, dies sei nur eine Verbrämung für staatstragend, was wiederum ein Euphemismus für obrigkeitshörig sei.) So wie mein Nachbar auf der anderen Strassenseite mit seinem Einfamilienhäuschen, seiner Frau und seinen zwei Kindern. Sogar Hühner hält er im Garten. Und neben dem Gehege türmt sich ein imposanter Stapel Harassen mit Mineralwasser auf. Er fordert die sofortige Ausgangssperre, weil «diese vernunftfernen Idioten» sich nicht an die Regeln halten. Damit meint er offensichtlich die paar Jugendlichen, die ab und an im Park ein Bier zusammen trinken. Der Familienmensch hat leicht reden, er lebt mit seinen Liebsten unter einem Dach. Wenn ich mir’s recht überlege, sollte ich ihm das Mineralwasser verseuchen – natürlich nicht mit dem Coronavirus, das wäre zuwenig poetisch. Wo kriege ich bloss Beulenpestbakterien her?
*
Tag 7 des Lockdowns: Gepolter und Geschrei reissen mich aus dem Schlaf. Die Alleinerziehende über mir schlägt wieder mal ihr Kind – die Arme ist überfordert.
Kaum habe ich die Zahnbürste zurückgestellt, durchzuckt mich ein Gedanke und ich eile runter zum Briefkasten. Tatsächlich, ein neues Pamphlet: «Es braucht so wenig, damit auch Linke und Nette zu Blockwarten werden.» Gezeichnet: coco. Chanel wird’s wohl nicht sein, ich tippe eher auf ein Kürzel für die berüchtigten Corona Conquistadores.
Als linke, eher unnette Person fühle ich mich nur halb angesprochen. Solche subversiven Sprüche können wir grad nicht gebrauchen, wir müssen solidarisch sein. Wie kürzlich, als wir alle zeitgleich am offenen Fenster standen und für das Krankenhauspersonal in die Hände klatschten. Die Pflegeleute können dann hoffentlich mit der neu geschaffenen Währung Applaudos ihre Miete bezahlen. Sind diese Flugblätter nur ein Dummejungenstreich? Oder stecken die Quartiertrotzkisten dahinter, die keine Gelegenheit auslassen, die ihrer Meinung nach längst fällige Revolution zu predigen? Im Innersten sehen sie sich letztlich als grosse Führer des Proletariats, wo ist da der Unterschied zu anderen politischen Sekten. Vielleicht verbirgt sich hinter dieser Aktion auch nur der Langzeitarbeitslose, der an der Kreuzung unten haust und mich bei jeder unpassenden Gelegenheit anpumpt. Was ich dem alles an Umwegen zu verdanken habe, wenn ich mit meinen Einkäufen auf dem Nachhauseweg bin und ihn grad noch rechtzeitig erblicke! Ich glaube, der schlägt sein Kind – wie kann man nur, so ein Arschloch!
*
Tag 8 des Lockdowns: Eine Woche ohne Beiz! Nicht, dass ich jetzt weniger trinken oder rauchen würde; nach dieser inneren Emigration mit unabsehbarem Ende werde ich nicht an Corona sterben, sondern an Leberzirrhose und Lungenkrebs. Gleichzeitig.
Mein Hühnernachbar hat über Nacht eine selbstgemalte Fahne am Balkon angebracht: «Stay the fuck home!» Gilt das auch für Obdachlose, die kein Home haben? Mancherorts werden sie ja in Konzentrationshotels zwangsinterniert. Ich möchte diesem Nachbarn gerne eine Fake-Zeitung zuspielen, die besagt, dass auch innerhalb der Familien zwei Meter Abstand zwingend und Sex zwischen Eheleuten unter Androhung der Kastrationsstrafe verboten sei.
Der Staat verbietet mir zu arbeiten, zahlt aber meine Miete nicht. Vielleicht sollte ich mir ein zweites berufliches Standbein schaffen und homöopathische Mittel herstellen. Globuli gegen Coronaviren. Doppelt so wirksam wie Avigan, Interferon und Plaquenil zusammen! Bei Schwierigkeiten mit der Produktion kann ich mir mit Tic Tac behelfen, die haben ungefähr den gleichen Placeboeffekt. Als besonderes Plus könnte ich eine in Zeiten der Klopapierhamsterei sehr willkommene Nebenwirkung anpreisen: Verhindert häufigen Stuhlgang.
Fortsetzung folgt (falls nicht noch eine Seuche dazwischenkommt).