Ferien am Geranienmeer

7. März 2020, es ist der letzte Samstag vor dem Lockdown, das letzte Mal Ausgang, Körper, Nähe, gegen laute Musik anschreien am Tresen der Lieblingsbar. Ich bin eigentlich krank, eine Erkältung wahrscheinlich, und gehe deshalb nicht arbeiten, aber trotzdem raus. Man hat zwar an jenem Wochenende bereits eine Ahnung davon, dass es irgendwie asozial ist rauszugehen obwohl man Symptome hat, aber man hat auch bereits eine unbestimmte Ahnung vom kommenden Lockdown und davon, dass es das letzte Mal sein könnte für eine längere Zeit. Noch ein letztes Konzert, bevor in der Isolation die Welt zusammenschrumpft, bevor man bald nur noch die Verkäuferin im Denner, die unberührten Süssgebäcke in der Schaufensterauslage der Traditionsconfiserie und die Geranien am Nachbarshaus hängen sieht. Bevor die Grenzen dichtmachen und von draussen nur noch komprimierte Debatten in Form von Headlines und Twitter-Threads zu uns durchdringen oder das kalte Flimmern irgendwelcher Live-Streams. Bevor das alles aber eintritt, gönne ich mir an diesem 7. März 2020 noch ein letztes Konzert: Jeans for Jesus im Dachstock.

Das deutsche Online-Musikmagazin Diffus hat Jeans for Jesus an jenem letzten Wochenende vor dem Lockdown begleitet und letzten Sonntag nach über zwei Monate lahmgelegter Konzertkultur ein kleines Video-Portrait der Berner Lieblingsboyband veröffentlicht. In der Kurzdoku sieht man Jeans for Jesus Backstage, Jeans for Jesus auf der Bühne, Jeans for Jesus vor dem Zytglogge, Chäfigturm, Meret Oppenheim Brunnen, auf der Lorrainebrücke über der Aare, hineincollagiert in beliebige Berner Postkarten-Sujets und zwischendurch Kamerafahrt über die Schaufensterauslage der Traditionsconfisserie. Nur die Reitschule fällt aus dem Postkarten-Sujet-Rahmen, denn die Reitschule ist alles andere als provinziell, ein Fluchtpunkt und eine Insel im Geranienmeer.

Im Zentrum Paul Klee sitzen die vier vor einem grossformatigen Lee-Krasner-Gemälde, das es im Museums-Shop wohl auch als Postkarte gibt, nebeneinander. Demi gähnt ein müdes Museumsgähnen, während Mike kluge Sachen zu Nationalismus und Popmusik sagt:

Es gibt ja generell momentan einen Rückzug in nationale Erzählmuster, was mega schlimm ist und in der Schweiz ist es krass, dass die Musik auf Schweizerdeutsch in dieser volkstümlichen Ecke einen riesen Hype hat. Wir waren eigentlich genau in dieser Welle, das war mega unangenehm, aber gleichzeitig gab es wirklich extrem breite Bewegungen im Soundcloud-Genre von Bands die wirklich cool sind und das war für uns von der Textseite her auch sehr erfrischend, weil wir müssen uns nicht mehr mit den alten Leuten die halt so diese alten guten Songs geschrieben haben vergleichen müssen, sondern es gibt wirklich gute Leute, die jünger sind als wir und die uns mittlerweile auch herausfordern.

Ein Emanzipationsprozess des Schweizer Mundartpop also und das nicht nur innerhalb der Schweiz, sondern auch über die Grenzen hinaus, nach Deutschland zum Beispiel, für ein «Zusammenwachsen in Europa und ein Zusammenwachsen der Sprachen und Dialekte», wie es Mike vor dem massiven Lee-Krasner-Gemälde formuliert. Es schwingt die leise Hoffnung mit, dass die Schweizer Pop-Musik irgendwann ausserhalb der Landesgrenzen nicht mehr nur belächelt wird und zumindest auf dem deutschsprachigen Markt mit Österreich mithalten kann.

Wenige Tage nachdem Jeans for Jesus ihre zwei ausverkauften Konzerte im Dachstock gespielt haben und mit einem Kamerateam durch die Postkarten-Strassen Berns spaziert sind, hat der Bundesrat den Lockdown ausgerufen und die Grenzen dichtgemacht, schrumpfte in der Isolation die Welt zusammen: Die Verkäuferin im Denner, die unberührten Süssgebäcke in der Schaufensterauslage der Traditionsconfiserie und die Geranien am Nachbarshaus. Und die Insel beim Bollwerk lag reglos an den kaum noch befahrenen Geleisen, das grosse Tor zur Reitschule blieb lange Wochen geschlossen.

Vorgestern hat nun der Bundesrat in einer heiteren Pressekonferenz das fast vollständige und vorläufige Ende des Lockdowns verkündet und uns einen einigermassen unbeschwerten Sommer, sowie die Öffnung aller Grenzen versprochen. Ein vereintes Europa. Aber die Festivals bleiben auch in diesem vereinten Europa abgesagt und Jeans for Jesus werden diesen Sommer nicht nach Deutschland fahren können, um ihren «für die Schweiz vielleicht aussergewöhnlichen, international gedacht eigentlich völlig normalen, zeitgenössischen Pop» auch jenseits der Grenzen an ein Live-Publikum zu bringen. Und wir dürfen zwar endlich in die Badi, in den Zoo, vielleicht sogar einmal an einen Dayrave mit ausgeklügeltem Hygienekonzept und Ferien dürfen wir auch planen, aber gefälligst in unserer schönen, zusammengeschrumpften Postkarten-Schweiz.