Fragile / handle with care

Werktagmorgen, Mitte Januar im Wankdorfquartier – ein dpd-Lieferwagen steht mit offener Schiebetüre und der Nase in einer Buchshecke quer auf dem Trottoir. Etwas weiter vorne hält der Müllwagen und presst sich unter Dieselhusten Containerfüllungen in den Stahlbauch, während aus der anderen Richtung gerade die Post einbiegt. Ich warte in meinem Laster auf einem Parkplatz etwas abseits, bis sich die Situation auflösen möge. Mit der Tonne Bierharassen im Rücken ist mir nicht nach Eiertanz. Zumal überall noch verbrauchte Weihnachtstannen rumliegen, die, wenn man den nahenden Müllwagen bedenkt, wohl jede Chance auf ein letztes Aufbäumen packen würden, um sich wie abartige Pfeifenputzer ins Fahrwerk zu schieben. Ich beobachte, bei heruntergelassenem Seitenfenster, wie der dpd-Lieferant mit dem linken Zeigfinger an einer Briefkastenwand Namen prüft. Dabei rutscht ihm ein Paket von seinem Stapel, den er mit abgehobenem Fuss und auf dem Oberschenkel zu balancieren versucht. Die Schachtel fällt und der Aufprall klingt, als klatschte ein etwa halbgekochtes Straussenei auf den Küchenmarmor. «Sone Djiissdreck ey!», entfährt es dem langen Mann drucklos, dessen Körper – vom Missgeschick erstarrt – die Zumutung seiner Situation in der ehrlosen Krümmung eines Jengaturms statuiert. Mich trifft sein Knick und ich gönnte ihm gerechten Zorn. Mindestens ein «Jetzt ist es halt kaputt verdammt!», etwas von dieser latenten Lust am Murks, wenn etwa der Stiel vom Pickel bricht aus Frust am unbeweglichen Stein im Loch oder das Glas beim Einräumen ins Regal im Streit. Aber sein Fluch hat nichts von Trotz. «Sone tschaiss vrdammt», sagt er nochmals leiser, als er sich mit der Hand in der Stirn über das Paket bückt. Die Frau von der Post ruft ihm von einer Hausnummer weiter ganz rund zu, «du musst dir nur so einen besorgen!», sie zeigt auf ihren klappbaren Sackkarren. «Iech mues mier gar nüt bsorge – besserts niemerts nüt me», sagt er und wirft dem Pakethaufen eine Geste der Gottschande entgegen. Seine Bewegung schreckt dabei ein paar Spatzen auf, die in einem Blumentopf beim Hauseingang Kerne pickten. Ich bin mittlerweile ausgestiegen und sehe den Vögeln nach, wie sie zu Kompostkübeln auf Fenstersimsen umsiedeln. Die eigentlich ganz elegante Fassade ist von diesen grünen Klötzchen durchsetzt und hängt unter der zusätzlichen Last von Fussballwimpeln und Regenbogenfahnen an den Balkonen in mühseliger Schieflage. «Wosch mrs grad gä?», fragt einer der angerückten Müllmänner mit dürrem Christbaum im Schlepptau und zeigt auf das aufgeschlagene Paket. «Chunnt früecher oder speter sowieso bi üs i Kreislouf.» – «Die Schweizer produzieren 700 Kilo Abfall pro Kopf im Jahr», sagt die Postfrau wie angesteckt und ihr verschwörerischer Blick gilt dabei ganz dem Müllmann, «davon 95 Kilo reiner Plastik! Damit belegen wir in Europa Platz eins.» Es klingt wie eine Durchhalteparole. Wie sie dieses Wir sagt. Ich meine, in ihrem piekfeinen Hannoverdeutsch einen geglückten Einbürgerungswillen auszumachen. Danach ist es kurz ganz still. Die Schachtel am Boden hat sich mittlerweile dunkel verfärbt und ist geplatzt. Es riecht nach Korsika. Der Lieferant packt den Karton an seiner trockenen Seite, zieht daran und gibt den Bruch frei. «Das iesch aber siecher ken Plastik», sagt er und schaut auf glitschige gelbe Schnitze und Glassplitter. «Sauzzitrone – ds perfekte Gwürz für fasch aues», weiss der Müllmann im Tonfall radikaler Zuneigung, als spräche er von seinem Hund. In den Augen der Postfrau glaube ich einen Blitz zu vernehmen. «Im Januar isch Hochsaison für Zitrusfrücht uf dr Südhaubchugle. De muesch se choufe u gad iimache. Aber die hätte se o gschider säubergmacht, aus irgendwo bsteut, oder? Isch das eigentlech dis Päckli?» fragt er und zeigt mit dem Stumpf der Weihnachtstanne in meine Richtung. «Nei, i warte da hinge mit em Laschtwage nume druf, bis d Strass frei wird.» «Aha, aufgepasst, gehört also auch zur sogenannt arbeitenden Bevölkerung», sagt er mit einem beigesellenden Kopfnicken zum dpd-Lieferanten hinüber, jetzt aber in diesem mahnenden Hochdeutsch der Boomer, als wäre es das Echo eines dicken Offiziers, der ihn einst in der Rekrutenschule auf den Ernst des Lebens zugehauen hatte. Aber vielleicht tue ich diesem warmen Mann auch unrecht und es ist tatsächlich sein Versuch, das verloren geglaubte Esperanto der ehrlichen Werkstätigkeit anzustimmen.

Es ist denn just der Moment, da im Himmel das Grau reisst und uns vier in Licht giesst. Die Vergoldung eines Zufalls – vom Missgeschick zueinander geschoben bis zur Auflösung der Alltäglichkeit. Und wie wir plötzlich dastehen, wie bestellt und nicht abgeholt und niemand mehr was weiss. «Fragile / handle with care» steht auf dem nassen Karton. «Weitermachen», sagt die Postfrau.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Februarausgabe des KSB Kulturmagazins.