Frau Born

Die Ortsangaben sind erfunden. Der Rest ist wahr.

Zum Glück gibt es sie. Das denke ich, wenn ich aufstehe. Und manchmal vor dem Einschlafen. Zum Glück gibt es Frau Born. Ich weiss nicht, ob ich sonst aufstehen könnte um diese Uhrzeit, eine ganze Kanne Kaffee in mich hineingurgeln, eine halbe Zigarette runterhusten, den gelben Hut vom Haken nehmen, das Messer einstecken, die Karte, das Buch.

Als Zeitungsjunge kommt man auf spezifische Gedanken. Nicht nur, dass man sich eine innere Systematik der verschiedenen Briefkasten-Typen anlegt, in Haupt- und Nebenfamilien mitsamt den entsprechenden Handgriffen, die unter Berücksichtigung der jeweiligen Klappeneigenschaft (Gewicht, Scharnier und Kollateralgeräusche) eine befriedigende und von Zwischenfällen verschonte Einfüllerfahrung garantieren. Als Zeitungsjunge fragt man sich zum Beispiel auch, ob man die Zeitungen eher aus-trägt oder ver-trägt. Austragen wäre versöhnlich. Irgendwann ist es aus und der Wagen leer und das letzte Blatt versenkt. Getane Arbeit. Aber so denkt vielleicht ein frischer Zeitungsjunge. Mit dem ersten Winter, spätestens, fängt das Vertragen an. Das ist ehrlicher. Das Vertragen ist ein Zustand, den es auszuhalten gilt – es versteckt eher halbherzig das Ertragen und beinhaltet desto mehr das Irren und die Sinnlosigkeit.

Niemand liest den Anzeiger. Sicher niemand unter fünfzig Jahren. Am Mittwoch ist Altpapier und nicht selten liegt die Zeitung auf dem Rückweg von meinem Kehr schon säuberlich gebündelt zur Entsorgung parat. Vielleicht also hätte ich mein allerletztes aufgebackenes Laugengipfeli der Bäckerei Sterchi («Wüsst dir nid was choche?») schon längstens gegessen, gäbe es sie nicht: Frau Born.

Sie ist meine heimliche Freundin. Nach der Heufeldstrasse biege ich in die Lanzstrasse ein, so will es das Routenbuch, das eher ein sorglos geheftetes Bulletin aus Fresszetteln ist als ein Buch. Frau Born wohnt in der 25. Und im Routenbuch steht «bei Frau Born bitte 2 Anzeiger», da, wo sonst mit roter Schrift die Verzichtserklärungen gelistet sind und also jene Haushalte, die sich um die Reduktion ihres Altpapiers dergestalt kümmern, dass sie den Anzeiger als immerhin amtliches Mitteilungsorgan nicht zu erhalten wünschen, da steht das. Frau Born möchte den Anzeiger zweimal. Zur Sicherheit hat sie das auch an ihrem Briefkasten vermerkt: «Bitte 2x Anzeiger», da, wo sonst sortierte Leute eher verdrossene Mitteilungen hinterlassen: dass sie keine Werbung wollen, dass sie keine Gratiszeitungen wollen und eben auch den Anzeiger nicht, da steht dieser in seiner Knappheit so betörende Liebesbrief von Frau Born.

Als Zeitungsjunge denkt man sich Sachen. Denkt sich Sachen in die Langeweile aus kalten Briefkästen hinein. Hinter jedem Briefkasten ist ein Mensch. Hinter einem überfüllten Briefkasten steckt vielleicht eine überstürzte Flucht: Jemand musste weg, weil gewisse Geschäfte entgleist sind oder gewisse Gelüste aufgeflogen. Oder ein Todesfall. Blöd ausgerutscht, dumm eingehakt, mies angeschlagen. Fertigaus. Und mit jedem Kehr werden die Bilder plastischer und die Geschichten wilder und die bürgerliche Idylle im Längbachquartier ein bisschen bedrohlicher.

Es ist nämlich so, als hätte die Idylle ihren Preis. Als lasteten die dunkelsten Geheimnisse des Quartiers auf meinen krummen Zeitungsjungenschultern. Den Preis zu zahlen, da ich zu viel weiss, das ich nicht wissen dürfte.

So nimmt die Höllenfahrt ihren Lauf. Dann seht ihr mich durch den Regen rennen, murmelnd in Zungen, wie ein durchgebrannter Zentaur, halb Ross, halb Zeitungsbub – und meine Karre hinter mich her, durch die leeren, verkehrsberuhigten Quartierstrassen, rasend mit nassen Zeitungsbünden, fuchtelnd, Heubrückstrasse, Odinstrasse, die Druckertinte verschmiert und verläuft sich in dem kosmischen Gemurmel und aus den Annoncen fliessen Gotteslästerungen und aus den Anzeigen werden Klagelieder, ins Vakuum geschrien von sirenenhaften Weltraumengeln, bis das Sudoku als numerologische Prophezeiung des drohenden Feuermeers verglüht – Feldbrückstrasse, Heufeldstrasse, Höllenfahrt, Höllenfahrt – und endlich am Horizont: Die Lanzstrasse 25, Frau Born, mein Sehnsuchtsort und oh: shelter from the storm.

Ich habe Frau Born noch nie gesehen. Es wäre auch eine sehr langweilige Konzeption dieser Liebe, die uns ohne Zweifel verbindet und deren Basis es gerade nicht ist, dass wir uns schonmal gesehen hätten. Jeden Mittwoch und jeden Freitag Morgen weiss sie, dass ich da war. Und ich weiss, dass sie mich lieber mag als der Rest meines Quartiersektors im Gebiet Längbach. Sie ist die eine, bei 742 anderen Haushalten, die mich am Liebsten zur Hölle schicken würden (und nicht bemerken, dass ich da schon bin.)

Bei einer durchschnittlichen Haushaltsgrösse von 2.23 Bewohnern lebten hinter diesen 743 Briefkasten auf meinem Kehr 1656.89 Menschen. 1656.89, an die ich mich verschenken könnte – und rechnet man aus Sittlichkeitsgründen die sehr alten 160 und die sehr jungen 160 davon weg, so ist Frau Born immer noch die eine unter 1336.89 Personen. Die eine unter fast anderthalbtausend Menschen, die mich nicht nur versteht, sondern die mich annimmt und umarmt. Und aus dem dritten Stock, doch nah am Himmelszelt mir Hoffnung schickt, nach der Hölle herab, in der ich stecke, als der Zeitungsjunge, der ich einmal bin.

Und schliesslich war. Ich habe meinen gelben Hut nicht mehr. Dafür habe ich einen roten Hut an der Wand, über das Bett genagelt in meinem Zimmer und manche sagen, ich sei von der Spur abgekommen. Aber was hätte ich tun sollen. Bin dem Routenbuch der Gutgläubigkeit gefolgt, bin auf der Karte der Liebe ausgerutscht, hab mir das Messer der Hoffnung unters Herz tätowiert. Manche sagen, das führe halt eigentlich immer ins Verderben.

Es war kurz vor Zwölf an einem Freitagmorgen im späten April. Ich war spät dran, hatte in meinen Geburtstag hineingetrunken, den Wecker überhört. Trotz meiner Verspätung war ich seltsam ruhig. Als hätte ich mich im Auge des Zyklons angenähert, erreichte ich die Lanzstrasse nicht in der üblichen Erschöpftheit. Seelenstill hatte ich meine Zeitungen verteilt, ich war geräuschlos, ich war geruchlos. Das Längbachquartier lag tot und hell in der hohen Sonne. Da ich in die Lanzstrasse schwebte, stiess ich, im Licht geblendet, meinen rechten Fuss an einem Wagen an, gleich dem meinen, mit dem ich die restlichen Zeitungen und aufgeschnittenen Plastikschnürungen hinter mir her zog. Ich hatte noch nie einen anderen Anzeigerboten angetroffen und hob bereits die Hand zu einem Gruss, mit dem ich die irritierende Situation zu entschärfen hoffte. Da sah ich ihn. Unbemerkt drückte ich mich gegen die ruppig verputzte Hauswand der Nummer 25. Dann wurde ich Zeuge davon, wie ein rotbemützter Kurier sich am Briefkasten von Frau Born zu schaffen machte, wie seine wüsten Finger die Klappe hoben und den «Bärner Bär» durch den Schlitz schoben, nicht einmal, nein, zweimal, zweimal dieses frivole Blatt in Frau Borns Briefkasten niederging, mühsam, er musste es reinstopfen, widerlich schwitzend und ächzend, ich schaute ihm zu und glaubte ihn zu riechen, seinen Schweiss zu riechen, der sich mit dem nächsten Spreizen meiner Nüstern in erbärmlichen Angstschweiss verwandelt hatte, rohe Furcht, die ich bis auf den Beckenboden einatmete, runterzog, bis meine Lungen voll davon waren und mein Kopf betrunken, bis ich aus meinem Versteck sprang, den Schuldigen mit zwei Messerstichen niederstach und mit zwei rasch zur Schlaufe zusammengeschnürten Plastikbändel schliesslich erdrosselte. Zwei für jeden «Bärner Bär», mit dem er meine Liebe schändete und vielleicht seit Jahren schon geschändet hat. Also stach ich weiter und stach ich tiefer, seelenstill und ruhig und fast ein bisschen glücklich, wenn auch blutverschmiert.

Meinen gelben Hut habe ich an den Nagel gehängt. Mit einem anderen Nagel habe ich den roten Hut an die Wand geschlagen, über meinem Bett, wo mich manchmal wilde Träume besuchen. Über meinem Bett hängt dieser Hut. Wie ein Skalp.