Wie geht es uns denn? Alles nicht so einfach, ich weiss. Erzählen Sie. Das hilft.
«The sudden feeling that this place is not on your side. I’m hiding now. And writing. I can’t stop, even now. This goddamned city makes me write even when it wants me dead.»
Spider Jerusalem
Habe mich in einer Zeitdiagnose versucht, habe Anstalten gemacht, die Gesellschaft zu lesen, bin nirgendwohin gekommen. Bin am Ende mit meinem –
«Ich fluche allem Gemensch», brummt Philostratos in der Enthymesis Arno Schmidts; an meiner Stelle. Ein Gedankenschritt weiter und ich fliehe allem Gewese. Doch wohin? Jeder Flecken dieses Planeten ist kartographiert und satellitenerschlossen; wenn nicht gar bevölkert. Die Terra incognita ist nur noch als kalligraphischer Schnörkel auf der Hirnrinde verzeichnet, der weisse Fleck ein gestopftes Loch, die das Weltenende besiedelnden Seeungeheuer blaffen aus dem imaginären Jenseits. Was auch immer den Menschen als Gegenstand versinnbildlicht, ich schultere ihn in Odysseusmanier und wandere solange nordwärts, bis mich die lokalen Entitäten danach fragen; für Romantiker wärs ein Hammer, für Pragmatikerinnen ein Mobiltelefon.
Es gibt kein Entrinnen. Einer globalen, kollektiven Psychose entkommt ein Häufchen Existenz nur durch eine regionale, individuelle. Indem es irgendwas Durchgeknalltes anstellt (und damit diese gemeinschaftliche Gemütsstörung mitträgt). Die Gegenarktis bietet sich als Fluchtort an, das planetare Antechamber, zyklopisches Vestibül – wenn auch nur als Fingerreise auf einer althergebrachten Weltkarte, Atlas als Papiertitan. Ich kämpfe das Verlangen nieder, mit einem Megafon bewaffnet die Besucher eines Gemüsemarkts sirenig zuzuheulen. In Schockstarre bedenke ich die tausend Möglichkeiten meines Handlungsstrangs (um nur einen Bruchteil zu beziffern). Wo ist Aglaophonos (die mit der schönen Stimme)?
«My dreams are all screaming and fucked
but I’m fine now.»
Kate Tempest
«Wir wollen weder saubere Hände noch hübsche Seelen, weder Tugend noch Terror. Wir wollen überlegene Formen der Korruption»
Xenofeministisches Manifest
In einer Welt mit acht Millliarden Daseinsmanifestationen gibt es keine Desertion, die Wüsten sind urbanisiert. Nichts ist unerzählt, ungehört, ungesehen, nichts ist neu, nichts meins. Aut Caesar aut nihil ist eine Sackgasse ins allvertraute Vakuum. Man mag Feuer mit Feuer bekämpfen, doch Wahnsinn mit Wahnsinn?
Es gibt kein Entrinnen, sagen Sie. Aha. Kollektiv. Die Fachliteratur kennt den Begriff der Mass Psychogenic Illness. Kollektive Psychose dagegen – dazu kein Eintrag im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: DSM-5. Aber ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Künstler Mats Staub vor ein paar Wochen, später Herbst, schwache Sonne, Kaffee draussen. Beiläufig seine Diagnose beim Diskutieren des erratischen Hier und Jetzt: Wir seien in einer kollektiven Psychose gefangen. Vielleicht braucht es die Kunst für solche überindividuellen, ein wenig spekulativen Diagnosen. Die Fachwelt giert ja immer mehr nach Evidenz, entsprechend meidet sie den Begriff «Psychose» heute, wie auch den der Neurose. Zu verschwommen, zu suggestiv auch. Über die Jahre deckte die Psychose so ziemlich das ganze Spektrum von psychischen Problemen ab: Hysterie, Melancholie, Manie, sogar Paranoia. Wie kommen Sie denn auf Psychose?
Es war so: Ich bat den schreienden Mann mit Bart auf dem Markt, das Megafon abzulegen und mir etwas zu erzählen. «Na klar, du kleiner Hurensohn – ich kann dir von der Wahrheit berichten», hat er gesagt, Megafon im Anschlag. In seinem Bart waren noch Reste der Wahrheit von gestern zu erkennen und ein Blitz züngelte in seinen Augen, da war ich recht erwartungsfroh und wurde nicht enttäuscht.
Ja: Mit einem Mal war alles Leben aus den Tauben gefahren, die kippten reihum um, tugg, tugg, tugg – und der Himmel leuchtete in einem wohligen Grünviolett, die Strassenmusiker am Marktplatz jodelten einen hirnverbrannten Bebop runter, aus den Senklöchern kroch kosmischer Dampf – kurz: die Weltkugel machte zweitausendundzwanzig Umdrehungen pro Sekunde und ich blickte der Zukunft ins Rektum rein – der bärtige Mann fing an zu tanzen, alles fing an zu tanzen. Es war schauderhaft schön:
Sind Sie noch da? Hallo? Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.
Wissen Sie: Im Mittelalter grassierte immer mal wieder die Tanzwut, auch Tanzpest genannt. Vor ziemlich genau tausend Jahren zum Beispiel in Cölbigk:
On Christmas Eve in 1021, 18 people gathered outside a church in the German town of Kölbigk and danced with wild abandon. The priest, unable to perform Mass because of the irreverent din from outside, ordered them to stop. Ignoring him, they held hands and danced a «ring dance of sin», clapping, leaping, and chanting in unison. The enraged priest, recorded a local chronicler, cursed them to dance for an entire year as a punishment for their outrageous levity.
It worked.
500 Jahre später dann gab es einen grossen Ausbruch in Strasbourg, dazu gibt es sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag, falls es Sie interessiert. Manche meiner Kollegen nennen das Epidemic Hysteria. Aber ich schweife ab. Und irgendwie ist uns die Lust zu tanzen ja auch vergangen, nicht wahr? Es ist uns eher nach Winterschlaf – wie schlafen Sie zurzeit?
Habe mit schlafen aufgehört. Wollte meine Meinung äussern, wollte laut und still sein auch, dazwischen funktioniert reden immerhin normal. Habe versucht, hübsch auszusehen, habe meinen Bauch eingezogen, das Negativ des Hosenknopfs ist lange noch zu sehen. Habe gelernt zu sprechen, ohne zu verstehen oder zugehört zu haben. Habe Konzepte geschrieben, Bücher gelesen und Manifeste.
«Hab 20 Jahre kritische Popmusik abgeliefert. Und plötzlich versinkt die Welt in einer Art paranoider Psychose, die man so trotz aller Kritik nicht hat kommen sehen.»
Daniel Ryser
Ah ja. Aber wie ist es denn mit dem Schlaf zurzeit?
Mit dem Nachtmahr auf der Brust – unverhohlen grinst der Schimmel durch den Vorhang, Froschnächte, träumen ist nicht mehr gedeihlich dieser Tage. Das gehört zum Fluch der Plage oder wo und wann hat wer zum letzten Mal durchgeschlafen?
«Niemand hat noch nie schlecht geträumt und trotzdem gibt es keine Albträume. Oder es gibt sie, aber darum sind es keine Illusionen. Was ich meine: Es gibt keinen zureichenden Grund, Träume nicht als Wirklichkeiten zu bewerten, nur weil etwas beim Schlafen passiert. Schlafen heisst nur, dass sich das Gehirn, diese aggressive Sinnsuchmaschine, von seinem Ordnungszwang der Sinneseindrücke während der Wachzustände erholt und darum alles kreuz und quer durcheinander ballern kann, beim Träumen – ein zu allen Wirklichkeiten gehörender, alternativer Modus der Wahrnehmung von Realitäten anderer Qualität. In diesem Sinne gibt es auch die Welt nicht, dafür unendlich viele Welten. Und ich meine das nicht relativierend, sondern im Gegenteil, sogar moralisch und realistisch. Richtig und falsch gibt es, wie es eine unsterbliche Seele gibt oder eben nicht. Darum auch universale gültige Grundsätze – wie Menschenrechte beispielsweise, das sind keine eurozentristische Fiktionen oder etwa die Fortführung des Kolonialismus auf philosophischer Ebene. Weil der Kolonialismus genau diesen universalen moralischen Grundsätzen widerspricht. Capisch, capisch!?»
Markus fragt mich das, raspelt dabei gleichzeitig hart auf einer Stange Süssholz und hält mich am Handgelenk wie im Schraubstock. Markus Gabriel: das Wunderkind der zeitgenössischen, kontinentalen Philosophie, Spatenstecher des neuen Realismus und Neo-Existenzialismus – seine aus dem Fernsehen bekannte piekfeine Berghainfrisur ist gänzlich aus der Form gelaufen, hängt über seinen Ohren und der gewohnt toastbraune Kennedy-Teint im Gesicht ist nun von besorgniserregendem Rotstich. Er hat gelitten während der Coronazeit. Ausgezehrt, als wäre er ein Goldhamster, dessen mittelständische Halterfamilie einfach nie mehr aus den Herbstferien in Kreta zurückgekehrt ist.
Ich schwitze beim Schlafen, die Sternstunde kollidiert mit Fragmenten der jungschen Archetypenlehre und Erzengel Gabriel lässt mich los, um sich das Megafon des Marktschreiers zu schnappen, der gerade eine Sekunde der Unachtsamkeit zulassen muss, weil ihm die bundlose Hose von der Hüfte rutscht.
Die Jungschen Archetypen, ich sehe. Fahren Sie fort.
Gabriel hingegen, flink wie ein Aal, setzt sofort zur Parole an: «Jede Flucht vom Wirklichen scheitert dadurch, dass die Flucht schon zum Wirklichen gehört! Die Physik, in ihrer Behauptung, dass alles Wirkliche nur das Messbare sei, ist eigentlich eine Metaphysik, eine Idee vom Grossen ganzen ausserhalb von uns. Das ist eine Lüge, eine Lüüüge! Nur, was die Physik erkennen kann, ist richtig? Dass ich nicht lache, wie soll schon nur der Satz – dass nur, was die Physik erkennen kann, richtig sei – physikalisch belegt werden? Das unterminiert sich selbst, das ist Idealismus, Irrtum und dass ich nicht lache, ich lache bald nicht mehr!»
Selbsterfüllend wahr – denn Gabriel muss nach Luft schnappen und das Süssholz pflanzt sich quer in seinen Rachen, so er sich denn die Maske vom Gesicht reissen muss und unter Brockenhusten zu Boden geht. Die bereits vom Marktschreier angelockten und von der eigenen Amtsgewalt warmgelaufenen Polizisten kennen kein Zaudern – Gabriel wird an die Handschellen genommen. Richtig und falsch, tatsächlich, wahrscheinlich, recht haben – das hast du jetzt davon, lieber Markus, bei all deiner logischen Brillanz, es ist eine ungnädige Zeit. «C’est le ton qui fait la musique», sagt ein Passant, der die Szene beobachtet und das Schicksal möge ihn niederstrecken für seine impfgegnerhafte Süffisanz. Ich wünsch mir diese Unbeteiligtheit an den Galgen und halte zu Engel Gabriel, geknebelt, mit der Schnauze in der eigenen Lake, dem armen Hund.
An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken, ich muss pissen, wo sind meine Adiletten, der Wecker zeigt 11:46 Uhr und irgendwas verträgt sich ganz scheusslich mit diesen Baldriantabletten. «Diese Seuche ist ein Naturereignis, und es gibt keinen ersichtlichen Grund zur Annahme, dass sie eine schlaue Erfindung sei, uns irrezuführen.», spricht das Radio auf dem Spülkasten und weiter, «selbst in die Irre führt uns aber immer die Überschätzung der eigenen Urteilskraft.» Ich schalte sofort das Radio ab.
Hoffnungslos.
Melania Trumps Tennis-Pavillon kommt nicht gut an +++ «Ich will die Emotionen aus ihr drücken wie aus einer Orange» +++ Wann kann ich mich in die Säule 3a einkaufen? +++ Hier rettet die Feuerwehr einen Pudel +++ Der Mann, der Kanye West ein ganzes Dorf bauen will +++ Darüber ärgern sich die Konsumenten im Corona-Jahr am meisten +++ «Im Flugzeug husteten etliche» +++ «Einmal mehr macht sich der Aargau europaweit lächerlich» +++ 1.50 Franken pro Kilometer mit der Pizza auf dem Rücken +++ Macht Weihnachten so überhaupt Freude? +++ Dänemark und die Zombienerze +++ Brisante Planspiele: Berner Hotels sollen zu Corona-Lazaretten werden +++ Die Marktwirtschaft rettet uns +++ Macron positiv getestet: «Wenn man erkrankt, dann hat man nicht ausreichend aufgepasst. Das ist keine Frage der Schuld, aber eine Frage der Verantwortung.» +++ Dieses Jahr ging es in der SRF-Arena über 20 Mal um dasselbe Thema.
Hoffnungslos.
«Wenn du Wörter stummschaltest, erhältst du keine neuen Mitteilungen für Tweets, die sie enthalten, und siehst keine Tweets mit diesen Wörtern in deiner Timeline.»
berset bundesrat covid covid19 covid-19 covidioten covidiots covidnavidad corona coronavirus impfen impfung lockdown mutation pandemic pandemie plandemie quarantäne quarantine swisscovidfail trump vaccination vaccine viren virus
«Wenn du Accounts stummschaltest, erhältst du keine neuen Mitteilungen für ihre Tweets und siehst keine Tweets von ihnen in deiner Timeline.»
- Nicolas A. Rimoldi @narimoldi [Freiheit!]
- ████████dissent.is @sms2sms [- + ≠ #kulturlǝsɥɔǝʍ ((( http://rebell.tv ))) (pers. #zettelkasten-account zum followen ungeeignet)]
- Silver Train @a_gossweiler [„Silver Train is coming, I’m gonna get on now, oh yeah.“]
- Claudio Zanetti @zac1967 [O judgment! Thou art fled to brusish beasts,. And men have lost their reason.]
- Roger Köppel @KoeppelRoger
- Terranova Hugo Claudio Ugo Soldat Ausbilder und König von der Schweiz @HugoTerranova [Ich bin der Kōnig von der Schweiz und anderen Lāndern wūrdig. Claudio Hugo Terranova Kōnig Oberleutnant aus der Schweiz er i Ausbilder aus allen Klassen.]
- Patreon @Patreon [Changing the way art is valued & getting creators paid.]
- Apple @Apple
Stummgeschaltet. Das lese ich nun ein wenig als Projektion. Detached. Nicht verbunden. Vielleicht kommen wir damit weiter. Eine gesellschaftliche Depersonalisation? Der Begriff kommt vom Romand Henri-Frédéric Amiel, übrigens, Philosoph und Literat. Im Tagebuch-Eintrag zum 8. Juli 1880 heisst es: «à présent je puis considérer l’existence à peu près comme d’outre-tombe, comme d’au delà; je puis sentir en ressuscité; tout m’est étrange: je puis être en dehors de mon corps et de mon individu, je suis dépersonnalisé, détaché, envolé.» Ich muss das rasch nachschlagen, ICD-10 …
Depersonalisation: Die Betroffenen klagen über ein Gefühl von entfernt sein, von «nicht richtig hier» sein. Sie klagen z. B., darüber, dass ihre Empfindungen, Gefühle und ihr inneres Selbstgefühl losgelöst seien, fremd, nicht ihr eigen, unangenehm verloren oder dass ihre Gefühle und Bewegungen zu jemand anderem zu gehören scheinen, oder sie haben das Gefühl, in einem Schauspiel mitzuspielen.
Habe meine Trauer mit Manie zu überschreien probiert, meine Wut mit Melancholie – wenn ich ein Turnschuh wäre, hätte ich diesen Ort schon lange verlassen. Habe mich in einem unbekannten Café irgendwo in der Stadt wiedergefunden, der Finger auf der Karte verrutscht. Einer vorhin lag im Asphalt und wusste Gescheites, habe mich geweigert. Eine Welt mit acht Milliarden Daseinsmanifestationen muss, soll nicht wissen, wer sie ist, wohin sie will. Keiner spinnt, alle wollen normal und zurück dahin, wo es warm ist und komfortabel: blaue Zone, blaue Zone. Die grösste Enttäuschung? Als ich gemerkt habe, dass ich nicht alleine bin.
Tatsächlich, da braucht es einen anderen Seelendoktor. Mein Latein. Nun. Ich erinnere mich Folgendes gelesen zu haben, kürzlich:
No one or group is immune from mass sociogenic illness. Attempts to identify predisposing factors and susceptibilities have produced conflicting results. Understanding the historical shifts in the manifestations of these outbreaks, the fears and uncertainties that preoccupy current cultures and the distinctive features of mass sociogenic illness that appear to transcend historical context will assist in more rapid recognition and treatment of outbreaks.
Geistiger Nachtschwärmer rundum, derangiert und vernebelt, wundere ich mich über den Ausgang der Menschheitsgeschichte. Eine Myriade Unendlichkeiten, jedem Körper innewohnend, fand ein Ende, doch was ist das? Ernüchternde Banalität: Am Ende des Spiels werden der König und der Bauer in dieselbe Schachtel zurückgelegt.
Einziger Hoffnungsschimmer nach neun Monaten kollektiver Psychose, a glimmer of hope after nine months of collective psychosis, Rückzug und Stillstand, Realismus, Verschwörung, retreat and stagnation, realism, conspiracy, 1000 Seiten Kritik, 1,7 Kilo Hedonismus, a 1000 page critique, 1.7kg of hedonism, forever young, forever 2020: Ja, vielleicht doch Kindermachen, fuck it, procreating might not be the worst idea. An old man dies, a baby girl is born. Der alte Mann stirbt, ein junges Mädchen kommt zur Welt. Fair trade –