Future Islands #2: Für immer Stadt

Der Busbahnhof vor Roma Termini ist eigentlich keiner, eher ein Gewimmel an Haltestationen auf einer weiten Fläche, von Baumreihen eingeteilt. Fussgängerinnen wird hier kaum Recht zugesprochen, aber viele sind wir trotzdem – selbstbewusst versucht man zu schreiten und springt doch den Bussen aus dem Weg. Busse mit kryptischer Nummerierung von 781 bis H, die hier kurz oder lang warten, bis man sich in ihnen dicht gedrängt und auf verschlungenen Wegen durch die Stadt macht. Auf diesem Platz scheint Rom mit Rom zusammenzuprallen. Der von den Faschisten umgebaute Bahnhof Termini, der in sauberer Linie und grosszügiger Höhe die zukünftige Ewigkeit dieser Stadt beteuern sollte trifft hier auf die Provinzialität, die Rom bis heute nicht ganz losgeworden ist. Die Stadt ist in Unordnung und tut das mit einem Schulterzucken ab. Rom sei zu alt, zu skeptisch, zu müde, meinte Mussolini noch 1921, ein Jahr vor der Machtübernahme der Faschisten in Italien; ausserdem auch: von Tag zu Tag zu lebend, fundamental hedonistisch. An den Stadtmauern von Rom werde jegliche Ordnung niedergeschlagen, jede Kultur und jeder Anstand.

Auf diesem Platz irren die Mutter und ich dem zielstrebigen Vater hinterher. Der Asphalt wirkt sonderbar hell an diesem Tag, und die Mutter sagt zu mir, «riechst du das auch?» Ja, sage ich und es wird mir erst recht bewusst, dieser süsslich furchtbare Geruch, der die Lunge fast lähmen will, der ganze Platz riecht so. Wir versuchen die Luft anzuhalten, aber funktionieren will das nicht, und auch der Vater bleibt kurz stehen, dreht sich um zu uns und sagt: Es stinkt. Aber woher?

Es ist dunkel an diesem Tag, aber es ist nicht das Wetter: Vogelschwärme als riesige Wolken, die sich aus den Baumkronen erheben und über uns und den Bussen kreisen und scheissen: die ganze Fläche ist voll damit, die Busse, die Automaten, alles. Starenschwärme umfassen bis zu einer Million einzelner Vögel. Auf dem Weg nach Süden bleiben sie im Winter manchmal auch in Rom hängen, wo es oft warm und trocken genug ist, und wo sie die Stadt zuscheissen, sie überziehen mit einem klebrigen, öligen Film.

Heute schickt uns die Tante im Familienchat Videos von ihrem Arbeitsweg: Von der Via Merulana bei Santa Maria Maggiore (beste Mitternachtsmesse an Heiligabend laut meiner Nonna) rüber zur EUR (ebenfalls eine faschistische Machtdemonstration). Und alles ist leer, leerer noch als bei mir in Bern, ein paar Hündeler vielleicht und Touristinnen sowieso nicht. Der Vater schreibt darauf: Un sogno!, ein Traum – und ich denke, nein, ist es nicht.

Ich vermisse die Stadt Rom, die ich normalerweise so anstrengend finde, so unübersichtlich, so dreckig, so überzogen von Touristen und Faschograffiti, so laut. Und während ich normalerweise meine Sehnsucht nicht recht verstehe, denke ich jetzt, dass es eigentlich klar ist. Dass es genau das ist, was mir jetzt fehlt: die Möglichkeit, auf engem Raum durch dicht gedrängte Menschenansammlungen zu navigieren, der Typ, der mir im Bus auf die Füsse steht und vielleicht auch jener, der mir so nahe kommt, dass ich mich dauernd fragen muss: Will er fummeln oder will er mein Portemonnaie? Überhaupt auch die Möglichkeit des Unerwarteten, das nicht aus einem Zusammentreffen mit der Polizei oder einem überforderten Foodkurier entsteht, sondern aus der Gefahr der grossen, unangenehmen Menge. Weiter: der Dreck. Der Lärm.

Die Unberechenbarkeit der Stadt ist das, was Mussolini in Rom einst überfordert hat, was er züchtigen und zurechtstutzen musste, plakativ zu sehen etwa an der breiten Via dei Fori Imperiali, die vom Kolosseum zur Piazza Venezia führt und für die ein Wohnquartier und auch einige antike Überbleibsel abgerissen wurden. Es ist diese Unberechenbarkeit, die wir uns erhalten müssen, die wir uns zurückholen müssen, sobald wir wieder können. Denn die Rufe nach Stille und Einkehr, wie sie kürzlich etwa im Infosperber (nicht aufregen!) und irgendwie auch sonst überall erhoben wurden, sie führen in die Irre. Obwohl ich manchmal froh bin ob der Ruhe, dem ausbleibenden sozialen Stress: Ich will sie zurück, beide. Denn wo es laut ist, scheint das Leben am meisten zu sein.

Wohnquartier zwischen Kolosseum und Piazza Venezia, Rom, 1906

Man sieht es deutlich am Exodus der Reichen aufs Land, die gerade alle in ihre Zweit- oder Drittimmobilien ins Tessin und an die Côte d’Azur flüchten: Was fürs Individuum sicherer sein mag, ist für die Gesellschaft als Ganzes zutiefst unsolidarisch. Und ganz nebenbei ist auch die Sehnsucht vieler Linken nach Kommunenidyll und Landleben nicht nur furchtbar langweilig, sondern ebenso ein Rückzug ins Private, der aus Perspektive der Gemeinschaft nicht vertretbar sein kann. Ein mieser Verrat an der urbanen Idee.

Aber der Mensch ist nicht alleine auf der Welt, wenn auch immer noch lieber Starenplage als diese verdammte Seuche. Unberechenbar auch das, aber wahrscheinlich soll es das auch sein. Den Menschen als das «eigentliche Virus» zu bezeichnen und das Virus als gerechte Strafe für seine Vergehen, wie es nun einige und eigentlich zu viele tun – da liegt die Bibel leider sehr nah am Kopfkissen. Und dass jetzt wieder Delfine im Hafenbecken von Venedig schwimmen sollen und süsse kleine vom Aussterben bedrohte Schildkröten an den Stränden schlüpfen, finde ich zwar ziemlich nett, nur mag ich sie nicht in falsche Argumente verwickelt sehen. Denn auch hier schwingt der Wunsch nach Reinheit mit, die der Mensch eigentlich immer nur stören kann – und sich so immer schuldig machen muss, in den Augen der Ruhesuchenden dieser Welt.

Darum, ja, hey Zukunft: Da soll Gemeinschaft sein und Lust daran, da soll Leben sein und darum Lärm. Auch Schildkröten meinetwegen, eine gewisse Freundlichkeit und ein stolzer Hedonismus, der irgendein Fascho nicht versteht (und auch aus reiner Freude daran). Nur gibt es das alles nicht ohne Streit, ohne Widerspruch und ohne Schmerz – ohne Lärm und Dreck. Wo sieht man das besser als in den überfüllten Bussen, den gedrängten Marktplätzen, den verschwitzten Clubs, wo sieht man das besser als in der Stadt: dass das Leben dort ist, wo es Reibung gibt. Und an den Stadtmauern sollen falsch verstandene Ordnung und Anstand niedergeschlagen werden, und drinnen die Kultur wild gelebt. Vielleicht hört man auch, wenn dem Wind danach ist, von weit her das Meer.

Markt in Bern, um 1920

Dein KSB denkt zur Zukunft, schiffbrüchig, wo die Zeit so ungewiss ist, wie wir es noch nicht erlebt haben.