Dein KSB denkt zur Zukunft, schiffbrüchig, wo die Zeit so ungewiss ist, wie wir es noch nicht erlebt haben. Eine Insel von Christian Pauli, Hansdampf in so manchen Berner Kulturgassen – und KSB-Veteran.
Seit Wochen da draussen der Jahrhundertfrühling. Die Aussicht jeden Tag die gleiche. Nur täglich etwas wenig mehr Grün. Licht von greller Sanftheit. Die Aare klar und übertrieben farbig schillernd in ihrer Kurve um die postkartenidyllische Altstadt. Ruhig ist’s wie vor hundert Jahren. Die Vögel zwitschern, die Brise raschelt im jungen Blätterwerk, ab und zu hört man ein Auto über die Kopfsteinpflaster fahren. Vereinzelt Touristen auf der Nydeggbrücke – seltsam verlorene Seelen. Exklusiv und punktgenau projiziert die Schweiz in die Hirnhälften der Einheimischen und Eingesperrten das Abziehbild eines endlosen Paradieses. Der Fluss, das Quartier, die Stadt, die Landschaften, alles schön präpariert, darnieder gelegt, herunter gerungen, abgestellt, sistiert und erschlafft im surreal schönen Lockdown. Ich hocke im Altenberg, trete auf die kleine Terrasse, gucke auf die Aare, den Gurten, das Münster, den verwaisten Bärengraben. Vermisse ich etwas? Back to the monitor.
Jetzt aber sind alle vor dem Schirm: der Countdown zum Ende des Lockdowns. Um 16 Uhr informiert der Bundesrat über unsere Zukunft. Die Nation ist im Netz, die Minuten bleiern, die Stationen stocken, das Tele auch in Achtungsstellung. Die Finger huschen über die Endgeräte, in Erwartung der ersten Live-News. Eine erste Push-Nachricht füttert den Ticker. Der Bundesrat drüben im Medienzentrum, einen Kilometer Luftlinie von hier und dennoch wie von einem anderen Planeten: referiert über das Ende des Home-Office, des Home-Schoolings, das Ende des Shoppens online, der Online-Apéros, -Hochzeiten und -Beerdigungen. Ruft die Berufstätigen zurück an die Scheren und Griffel, zurück an die Maschinen, an die Bildschirme, auf zur Hand-, Kopf- und Fronarbeit, vor die Theken, die Stände, in die Gräben, Läden und Hallen. Schickt dreifach gestaffelt Millionen Bürgerinnen und Bürger wieder zur Arbeit, Tausende Schülerinnen und Schüler in die Schule, Studierende in die Universitäten. Back to business.
Aber die Überraschung ist total. Es ist April, der siebenundzwanzigste, kurz vor Mittag. Der Gesamtbundesrat hat sich zur dringlichen Zoom-Konferenz verabredet, obwohl das reguläre Corona-Meeting erst zwei Tage später stattfinden würde. Aus zunehmender Nervosität haben sich die Bundesräte pflichtbewusst die Hände geschmiert und Masken aufgesetzt. Im Laufe des Morgens drangen Meldungen ins Bundeshaus, zuerst gerüchteweise via SMS, dann als Medienanfragen, dringliche Telefonate von Chefbeamten, entsetzte Rapporte von Polizisten: da draussen passiert nichts, es ist einfach nix los. Kein Coiffeurladen öffnet, kein Blumenladen duftet penetrant, die Tatoomaschine im Hipster-Salon schweigt. Die Bahnen und Busse weiterhin leer, auf den properen Gehsteigen die gleichen Joggerinnen und Jogger wie gestern, vorgestern, vorvor-gestern. An der Aare pausieren die leicht gelangweilten und tiefenentspannten Heimwerkerinnen, derweil sich die Politiker verwundert die Augen reiben.
Das hatte niemand erwarten können, kein Bundesrat, keine Regierungsrätin, keine Expertin, kein Virologe, nicht der Berufsverbandspräsident, auch die Parteipräsidentin und der Gewerkschaftsboss, nicht einmal der Populistenfürst und Angehörige der Risikogruppe, der auf seinem Privat-TV eifrig und zunehmend verzweifelt gegen den staatstreuen Commonsense geschossen hatte. Der Bundesrat ruft das Ende des Lockdowns aus, und niemand regt sich. Es ist eine Revolution, ohne Barrikaden, ein Aufstand der Verweigerung. Die Leute da draussen sagen gar nix, aber sie denken. Nein, sie denken nicht einmal mehr, denn sie haben sich längst entschieden, ohne es zu realisieren:
Wir bleiben daheim, heute, morgen, überhaupt, uns gefällt‘s hier. Bundespapi Berset und Bundesmami Sommaruga, wir haben euch gehört, ihr habt ja gut zu uns geschaut, nun aber haben wir uns daran gewöhnt, wir haben uns eingerichtet, das Heim aufgeräumt, Sachen entsorgt, Spuren vom früheren Leben gesichtet und weggewischt, jetzt sind wir installiert und wir vermissen gar nichts. Und wenn wir dabei unseren Job verlieren? Egal, der Staat zahlt ja.
Es herrscht grosse Ruhe im Lande und sie wird nicht enden. Jahre später wird man sagen, es kam im 2020 ein Virus und hat die Menschen zur Vernunft gebracht.